Donnerstag, 16. April 2015

Ich kann nicht mehr

„Die Zeit wird kommen, wo unsere Nachkommen sich wundern, da wir so offenbare Dinge nicht gewusst haben.“ (Seneca)
Ja, ja, ich weiß. Ich kann es auch nicht mehr hören. Griechenland. Hängt mir zum Hals raus. Will ich gar nicht mehr wissen. Die armen Leute, die bösen Bonzen, die fiesen Banker und die unfähigen Politiker. Schon tausend Mal gehört, tausend Mal ist nix passiert. Deswegen mache ich es kurz:
Hätte-Hätte-Fahrradkette man vor fünf Jahren, als Griechenland schon pleite war, das Land einfach Bankrott gehen lassen – es wäre besser gewesen. Eine heilsame Lektion in Sachen Marktwirtschaft. Gute Zeiten, schlechte Zeiten. Aber so ist das Leben nun einmal. In Deutschland wären nach Auskunft von Insidern (die ich kenne und Sie nicht, kleiner Scherz am Rande) die Commerzbank und die HVB kollabiert, sie hätten im Zuge ihres Bankrotts zahlreiche Unternehmen mit in den Abgrund gerissen. Eine Kettenreaktion, die Deutschland nach dem Absturz 2009 gleich die nächste Krise beschert hätte. Frankreich, Italien und vielen anderen Ländern wäre es ähnlich ergangen.
Aber mal im Ernst: Hätte so ein Schock nicht eine gewaltige pädagogische Wirkung in ganz Europa, möglicherweise sogar weltweit entfalten können? Wir hätten erkennen können, dass Marktwirtschaft auch seine negativen Seiten hat, dass etwas schief gehen kann und dass der Markt allein kein Allheilmittel für alle organisatorischen Fragen einer Gesellschaft sein kann. Wir hätten in der Krise einen Teil unseres Wohlstands verloren, aber eine wertvolle Erkenntnis gewonnen: Manches überlässt man dem Markt (Kartoffeln zum Beispiel), manches überlässt man dem Staat (Bildung zum Beispiel). Wir wären vielleicht sogar zur sozialen Marktwirtschaft meiner Kinder- und Jugendtage zurückgekehrt.
Wer erinnert sich noch an die Zeit vor Helmut Kohl und seiner „geistig-moralischen Wende“, die mit Geist und Moral nie etwas zu tun hatte, sondern immer nur mit Geld und Macht? Ich war damals in den Ferien oft im Betrieb meiner Eltern, weil beide berufstätig waren und ich nicht alleine zu Hause bleiben sollte. Meine Eltern arbeiteten in verschiedenen Teilen eines riesigen Industriebetriebs mit qualmenden Schornsteinen und tausenden Arbeitern in verschiedenfarbigen Kitteln. Innen drin ging es aber sehr gemütlich zu. Man kannte sich, man hielt ein Schwätzchen, wenn man sich auf dem Flur traf, in der Schreibtischschublade lagerten Schnaps- und Weinvorräte und die Kioske boten kaltes Bier. Jeder Geburtstag oder meinetwegen der Namenstag des Hundes wurde in der Abteilung ausgiebig gefeiert. Da ging nach der Mittagspause gar nichts mehr. Und die Mittagspause war lang, weil die Leute erst mal ein Nickerchen gemacht haben, nachdem sie aus der Werkskantine gekommen waren. Ich selbst bin den ganzen Tag in der Abteilung herumgestromert, habe mir alles angeschaut und durfte das Kopiergerät bedienen, das ich damals ganz toll fand. Zwanzig Kopien von meiner linken Hand? Warum nicht? Alle Menschen waren nett zu mir und hatten Zeit für mich, wenn ich in ihre verqualmten Büros gekommen bin.
Das Leben war vor vierzig Jahren nicht schlechter. Wir lebten damals genauso gut wie heute. Wesentliche Dinge wie Pommes frites oder Orangenlimonade waren bereits erfunden. Ich habe nicht den Eindruck, dass der Wohlstand seitdem gestiegen wäre. Es gibt einen Haufen neuen Schnickschnack wie Smartphones oder Wochenendreisen nach Rom, aber das gute Gefühl, ein angstfreies und gemütliches Arbeitsleben mit netten Kollegen zu verbringen, ist verschwunden. In die Firma, in der meine Eltern gearbeitet haben und noch heute meine Schwester arbeitet, sind übrigens Anfang der neunziger Jahre zum ersten Mal die Unternehmensberater gekommen. Plötzlich hingen Parolen an der Wand: „Vision and Leadership“. Mit den Parolen kam die Kürzung des Weihnachtsgelds – schließlich mussten die Unternehmensberater ja bezahlt werden. Ich habe es als Werkstudent noch miterlebt. Mann, bin ich froh, dass ich heute Schriftsteller bin.
Dion & the Belmonts - Na na hey (kiss him goodbye). https://www.youtube.com/watch?v=EOVC3ELpeTY

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