„Die Landkarte ist nicht das Land.“ (Alfred Korzybski)
Sehr geehrter Herr Professor Unrat!
Wir sind es als Europäer gewohnt, rational zu denken. Wir unterscheiden, wir vergleichen, wir messen, wir bilden eine logische Ordnung und erfinden Benennungen für alles, was uns in der sinnlich erfahrbare Welt umgibt. Wir zerlegen jeden Vorgang in Ursache-Wirkungs-Ketten, wir zerlegen jeden Organismus systematisch in seine Einzelteile. Alles hat einen Grund, eine Funktion, einen Anfang und ein Ende. Zahlen, Tabellen, Grafiken, Fahrpläne, Kalkulationen, Ranglisten. Dieses Denken ist uns so selbstverständlich geworden, dass uns jede andere Form des Denkens fremd geworden ist.
Wir wollen uns nicht auf unseren Instinkt und auf unsere Intuition verlassen, die wesentliche Elemente des „nicht-europäischen“ Denkens sind. Wir sind buchstäblich von unserem Instinkt und unserer Intuition verlassen. Was ist für uns Europäer Instinkt? Vorurteile und Gewohnheiten, Angst, Bequemlichkeit, Lebenserfahrung oder einfach nur Gedankenlosigkeit? Davon wollen wir uns frei machen. Das ist irrational.
Die Kulturgeschichte Indiens, Chinas und Japans, aber auch die Kulturgeschichte vieler Naturvölker in Afrika, Amerika, Asien und Australien ist voller Beispiele für unmittelbare Erkenntnis. Diese Kulturen kommen ohne das Seziermesser eines logischen Systems rationaler Gesetzmäßigkeiten aus. Ich möchte Ihnen zwei Beispiele für intuitives Denken aus unserem Alltag geben.
Sie denken über ein vergangenes Ereignis nach oder sprechen mit Freunden darüber. Ein Wort oder ein Name fällt ihnen nicht ein. Ein spezielles Gericht in einem Restaurant, das sie damals in einem kleinen Dorf am Meer besucht haben. Der Name einer Schulfreundin, die sie seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen haben. Sie denken angestrengt darüber nach, aber es fällt ihnen trotzdem nicht ein. Sie beschließen, an etwas anderes zu denken oder über etwas anderes zu sprechen. Sie spüren, dass dieses Wissen in Ihnen ist, aber es braucht noch etwas Zeit. Nach einer Weile, in der Sie Ihre Aufmerksamkeit anderen Dingen zugewandt haben, fällt es Ihnen plötzlich ein: der Name, der Ort, das Erlebnis. Es konnte Ihnen nur einfallen, weil sie nicht systematisch in Ihrem Gedächtnis nach dieser Information gesucht haben.
Kennen Sie Erasmus Bürzelschwung-Schleissheimer, den stellvertretenden Vorsitzenden des Elternbeirats des Kindergartens „Die Superwichtel“? Er wohnt in meinem Dorf. Oder Elvis Bimsmichl, den Sohn eines verbeamteten Nonkonformisten und einer linksdrehenden Musikpädagogin, der das Mini-Knoppers erfunden hat? Nein? Dann vielleicht Daniel Fürchtegott Steinmorgen, berühmter deutscher Büroangestellter (1912-1995)? Da klingelt nichts? Muss es auch nicht. Ich habe mir diesen Blödsinn nur ausgedacht. Fanden Sie es witzig? Wenn Sie gelacht haben, haben Sie die Pointen intuitiv erfasst. Wenn Sie nicht gelacht haben, werden Sie es auch nach der Erklärung jeder einzelnen Pointe nicht tun. Man lacht entweder, ohne nachzudenken, oder eben nicht. Die Pointe eines Witzes funktioniert ebenfalls nur intuitiv. Der Zen-Buddhismus beispielsweise ist voller überraschender Pointen, irrationaler Paradoxien und verblüffender Wendungen, die uns die Grenzen des logischen Denkens aufzeigen sollen.
Die Kunst ist, im Gegensatz zur Wissenschaft, das Ergebnis von Eingebungen, nicht von Berechnungen. Der Künstler erschafft spontan und intuitiv etwas Neues. Aus dem Nichts entsteht etwas, das er selbst zuvor nicht kannte. „Wo“, fragte Alexander Herzen, „ist das Lied, bevor es der Komponist ersinnt?“ Für diesen Schöpfungsakt braucht man weder Messungen noch Tabellen, weder Kalkulationen noch Fahrpläne. Kreativität ist ein unergründliches Geheimnis, das Ihnen auch ein Künstler nicht erklären kann. Warum entsteht ein Text? Sie sagen: Aus Geltungssucht und Geldgier. Für den Großteil der Veröffentlichungen in den Medien und den Verlagen mag das tatsächlich zutreffen. Aber es erklärt nicht den Kern des schöpferischen Prozesses, die pure Lust des Erschaffens. Für Eitelkeit und Habsucht gibt es lohnendere Gebiete.
Eilen Sie weiter, werter Herr Professor. Beschriften Sie die Welt mit kleinen Zetteln. Faktenwissen und das Gefühl andauernder intellektueller Überlegenheit sind keine Zeichen von Weisheit, sondern einzig Güte und Barmherzigkeit. Ewig ist nur der Wandel und nicht der Inhalt irgendeines Lehrbuchs. „Während ich still sitze und nichts tue, kommt der Frühling, und das Gras sprießt“, heißt es im Zenrin Kushu.
In der angenehmen Hoffnung, dass diese Zeilen Sie und Ihre geschätzte Familie gesund antreffen, sehe ich Ihrer Antwort mit großer Freude entgegen und zeichne mit ergebenster Hochachtung
Ihr Bodhisattwa Bonetti
Zeit: Jetzt. Nach Ihrer Zeitrechnung, die sich an der regional dominierenden religiösen Mythologie orientiert, ist gerade der „25. April 2015 n.Chr.“
Ort: Hier. Nach Ihrem anthropozentrischen Weltbild, das die Welt in Verwaltungseinheiten gliedert, befinde ich mich derzeit in „Bad Nauheim“.
Marjorie Estiano – Wave. https://www.youtube.com/watch?v=Ja8_6NdsKHM
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