„Lieber mach’ ich mir einen Feind, als dass ich auf eine Pointe verzichte.“ (Oscar Wilde)
Es ist die schönste Liebesgeschichte, die sich im vergangenen Jahr in Wichtelbach zugetragen hat. Wäre es reine Dichtung, hätte eine Redaktion oder ein Lektorat ohnehin die Hälfte gestrichen, weil es einfach zu viel ist – aber lesen Sie selbst:
SIE leidet am Borderline-Syndrom mit allen Facetten dieser Krankheit. Sie beherbergt mehrere Persönlichkeiten, hat Bulimie und sie ritzt sich – bevorzugt die Fußsohlen, damit sie beim Laufen Schmerzen hat. Und sie läuft viel, denn sie hat zwei Hunde, mit denen sie häufig Gassi gehen muss. Nach jeder Mahlzeit geht sie auf die Toilette, um sich geräuschvoll zu übergeben, auch in Restaurants. Zuvor verschlingt sie beträchtliche Mengen und hat auch einen ganzen Wäschekorb voller Süßigkeiten in ihrer Küche stehen. Das einzige, was sie bei sich behält, ist der Alkohol. Weißwein, Eierlikör und Weizenbier in rauen Mengen. Bis vier Uhr morgens trinkt diese Frau im Regelfall, es ist eine wahre Pracht. Seit der Frühverrentung wegen ihrer psychischen Probleme lebt sie in einer kleinen Wohnung und bezieht eine Rente auf Hartz IV-Niveau. Sie hat einmal als Juristin gearbeitet, ein hervorragendes Abitur gemacht und ist die Adoptivtochter eines namhaften Politikers, der im Rotarier-Club ist. Ihr tatsächlicher Vater lebt in den Vereinigten Staaten, ihre Mutter lebt getrennt von ihm auf Hawaii. Die Mutter ist schizophren, drogenabhängig und überdies von adliger Geburt, was ihre Tochter zu einer Baroness macht. Zum Zeitpunkt der Erzählung hat unsere Heldin einen mehrmonatigen Aufenthalt in einer Nervenheilanstalt hinter sich, wo sie auch ihren aktuellen Freund kennengelernt hat. Ihren Noch-Freund …
ER ist der Sohn eines Feuerwehrmanns und arbeitet im Kühllager einer Supermarktkette, wo er sich von der Hilfskraft zum Staplerfahrer hochgedient hat. Er hat achtzehn Semester Sozialklimbim studiert, ohne jemals die Universität von innen gesehen zu haben. Danach scheiterte er als Wirt einer Dorfkneipe und war Hartz IV-Empfänger, bevor er den Job als Lagerarbeiter in Frankfurt ergattert hat. Auch er trinkt gerne, ist überdies spielsüchtig und ein Messi. Seine Wohnung könnte man mühelos als Location für eine entsprechende Produktion bei RTL II verwenden. Die Toilettenspülung funktioniert schon seit zehn Jahren nicht mehr, man muss „es“ mit einem Eimer wegspülen. Er ist drei Monatsmieten im Rückstand und hat überall Schulden. Das Geld für seinen Gebrauchtwagen, mit dem er nach Feierabend noch Pizza ausliefert, hat er einer armen alten Witwe abgeschwatzt und stottert es in Monatsraten ab. Er ist depressiv und neigt zu exzessivem Selbstmitleid – bis er eines Abends SIE kennenlernt.
BEIDE treffen sich auf einem Dorffest und sind sturzbetrunken, als Amors Blitz einschlägt. Er verliebt sich in sie. Nachts steht er fortan regelmäßig vor ihrem Haus und schaut zu den Fenstern ihrer Wohnung empor. Er hofft, wenigstens ihre Silhouette zu sehen. Über Monate nähert er sich dem Objekt seiner Leidenschaft an, sie trinken zusammen, sie verstehen sich prächtig. Die Kommunikation läuft zwischendurch über SMS, da sie aufgrund ihrer Erkrankung unfähig ist, am Telefon zu sprechen. Irgendwann kommt es zu ersten Zärtlichkeiten. Einige Wochen später trennt sie sich von ihrem psychisch kranken Freund und die beiden werden ein Paar. Die Beziehung dauert nur sechs Wochen, während der sich die beiden mehrfach trennen und wieder versöhnen. Morgens schreibt sie in einer SMS, dass sie ihn liebt, abends schreibt sie in einer SMS, dass sie ihn hasst. Dazwischen ist nichts passiert. Manchmal kommt es zu dramatischen Szenen, wenn er ihr zum Beispiel vorschlägt, etwas in getrennten Zimmern zu machen, also etwa kochen und fernsehen. Dann fühlt sie sich verlassen und weint. Als er einmal am Sonntagmorgen in seine Wohnung geht, um Wäsche zu waschen, schickt sie ihm eine SMS, er hätte sie wegen der Waschmaschine verlassen und brauche auch nicht mehr wiederzukommen. Tatsächlich geht er in eine Spielothek, um zu zocken, erzählt später aber, er habe die uralte Waschmaschine permanent im Auge behalten müssen. Über die Intensität der Beziehung gibt es widersprüchliche Ansichten. Laut seiner Aussage kam es zu sexuellen Handlungen. Einmal habe er sogar neunzig Minuten ununterbrochen („Nonstop! Ich habe auf die Uhr gesehen“) mit ihr gevögelt, er hätte sogar eine Blase am Penis gehabt (und das alles ohne Viagra!). Nach ihrer Aussage gab es überhaupt keinen Sex. Er sei immer betrunken neben ihr eingeschlafen.
Am Ende trennen sie sich, versichern sich aber gegenseitig, man wolle befreundet bleiben. Ihrer Meinung nach sind sein schlechter Charakter und seine Impotenz ausschlaggebend für die Trennung, seiner Meinung nach ihre Geisteskrankheit. Als sie sich wenige Tage später im Biergarten eines Campingplatzes wiedersehen - sie ist inzwischen wieder zu ihrem alten Freund zurückgekehrt, in dessen Begleitung sie ist, er sitzt gerade bei Jägerschnitzel und Weizenbier, ich sitze mit ihm am Tisch und werde so Zeuge der Begegnung -, dreht sie sich wortlos um und geht zum Auto zurück, während er augenblicklich Messer und Gabel fallen lässt und den Gastwirt um die Rechnung bittet. Da ihr neuer und alter Freund Kampfsport betreibt, kündigt er auf dem Heimweg den Besuch eines Waffengeschäfts an. In die Dorfkneipe geht er nur noch, wenn sie nicht anwesend ist. Er schickt einen Kumpel vor, der ihm ein Zeichen gibt, ob die Luft rein ist. Und natürlich lästert er, der von der Liebe und den Frauen so enttäuscht wurde, wo er nur kann. Und so erreicht die Geschichte mit all ihren amüsanten und pikanten Details schließlich auch den ehrwürdigen Chronisten von Wichtelbach.
Sheila E. - Love bizarre. https://www.youtube.com/watch?v=-fpnJgek6QQ
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