Sonntag, 2. November 2014
Ödland, Kapitel 8
So wie Josef Knecht, der alte Glasperlenspielmeister aus Hesses Kastalien, habe ich am Ende das Bedürfnis, die mir vertraut und ein wenig langweilig gewordene unmittelbare Umgebung zu verlassen und in die Welt hinaus zu gehen. Also packe ich einen kleinen Koffer, fahre zum Flughafen und nehme das nächste Flugzeug nach Buenos Aires. Ich lasse das Haus zurück, meine Bilder, die Bücher, Möbel und Anzüge. Geschirr, Schuhe, Briefe, Teppiche. Rotwein, Sherry, irischen Whiskey. Glückliche und unglückliche Erinnerungen. Die in ihrer vernunftlosen Art weise Natur wird sich des Gartens annehmen. Nichts würde mich vermissen.
Der Himmel hat die Farbe ausgespuckter Austern. Kein Wetter für suizidgefährdete Hobby-Philosophen und Selbstmitleidsfanatiker. Auf der Autobahn Richtung Frankfurt ist wenig Verkehr. Ich höre laut Musik, „The Cure“ und „The Smiths“, und die anderen Autos gleiten langsam an mir vorüber, als wäre ich in einem Aquarium. Da ich nicht weiß, wann der nächste Flug nach Argentinien gehen wird, kann ich mir Zeit lassen. In Gedanken gehe ich noch einmal durch, was nötig ist und was ich mitgenommen habe. Eigentlich eine müßige Überlegung: So lange man einen gültigen Ausweis und einige belastbare Kreditkarten besitzt, können alle anderen Aspekte der Reisevorbereitung vernachlässigt werden. Ich habe ein paar Bücher eingepackt, nicht viel, aber eine erlesene Auswahl. Kafka, Musil, Dschuang Dsi – das ist großes Tennis. Überhaupt ist es mit der Literatur sowie der Kunst überhaupt wie im Sport, wie in der Leichtathletik, im Fußball oder eben im Tennis: Würde man Männer und Frauen gegeneinander antreten lassen und eine Top Ten bilden, wäre keine einzige Frau darunter. Selbst in den Top 50 wären es nur wenige Frauen und sie wären im hinteren Feld zu finden. So ist es auch mit der Büchern. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie ein Stück exzellenter Literatur aus der Feder einer Frau gelesen. Es mag chauvinistisch klingen, aber es ist wahr. Man muss die Fähigkeiten eines Menschen jedoch immer in Beziehung zu seinen Freiheiten und Möglichkeiten setzen. Frauen hatten in der Vergangenheit nur in Ausnahmefällen die Freiheit, sich künstlerisch betätigen zu können. Der Befund, Frauen hätten bisher nur wenig zur Kunst- und Geistesgeschichte beigetragen, ist also kein Vorwurf an die Frauen, sondern eher eine Anklage an die Geschichte. Eigentlich an die Männer, die seit Anbeginn der in Form von Erzählungen und Aufzeichnungen erinnerten Zeit diese Geschichte machen – aber da denke ich dann wieder an mich selbst und verkneife mir, schmunzelnd vor Zufriedenheit, eine Fortführung des Gedankens. Und so, in Abschweifungen und Tagträumen gefangen, gelange ich endlich auf das Flughafengelände und suche ein Parkhaus.
Im Flughafengebäude umfängt mich sogleich das unerträgliche aufgeregte Geplärre der Welt. Tausend Stimmen in hundert Sprachen, dahinter der blecherne abgestorbene Singsang der Lautsprecherdurchsagen. Diese ersten Momente des Erschreckens und der Orientierungslosigkeit gehören zum schlimmsten, was der moderne Flugverkehr für uns bereithält. Eigentlich will man gleich wieder gehen. Aber nach einigen Momenten und unsicheren Schritten löst sich die Betäubung, meist allmählich, manchmal auch drastisch, etwa wenn man fast von einem albanischen Transitreisenden mit seinem Gepäckwagen voller DVD-Recorder über den Haufen gefahren wird. Ein kurzer Moment der Besinnungslosigkeit, ein mikroskopischer Filmriss, ein oder zwei Sekunden fehlen. „Ich denke, also bin ich hier falsch“. Mit dieser Sentenz von Harald Schmidt aus dem unerschöpflichen Zitatenkästlein zwischen meinen Ohren tröste ich mich für einen Augenblick. „Life sucks. Than you die“, wäre mit Beavis&Butt-head noch zu ergänzen.
Während ich meinen Weg fortsetze, denke ich unwillkürlich über das Thema „Krisen“ nach. Als ich mit Ende Zwanzig meine große Mid-Life-Crisis hatte, habe ich gedacht, das wäre das Ende, das tust du dir nicht länger an. Ich weiß nicht, ob ich damals zu faul, zu feige oder einfach zu besoffen war, um diesen letzten Schritt zu vollziehen. Aber nach einer Weile war die Krise einfach vorbei. Mir wurde klar, dass dies nicht die erste und die letzte Krise gewesen war. Am Anfang der Pubertät hatte es eine Krise, einen Zustand völliger Mutlosigkeit und düsterer Zukunftsvorstellungen gegeben, dann wieder nach Abschluss der Schule, als ich nicht wusste, was ich überhaupt machen wollte. Heute weiß ich, dass es viele Krisen gibt, jede hält man für die größte aller Krisen, aber sie sind alle gleich. Und: Wir lernen nichts aus ihnen. Manchmal wissen wir gar nicht, wie eine Krise überhaupt beendet wurde. Es muss nicht immer eine Veränderung wie Berufs-, Orts- oder Partnerwechsel sein, in einigen Fällen gleitet man einfach in einen neuen Zustand rotzhochziehender Trotzigkeit, der alsbald von einer Phase des ersten scheuen Mutschöpfens abgelöst wird, durchsetzt von bitteren Rückfällen voller Selbstmitleid. Ein halbes Dutzend dieser Erfahrungen liegen hinter mir.
Der nächste Flug nach Buenos Aires, eine Stadt, die ich nie zuvor besucht habe, soll in zwei Stunden gehen. Ich reihe mich in die Schlange am Air France-Schalter ein und bezahle mit meiner Karte einen einfachen Flug. Vorläufig wollte ich mir die Freiheit erhalten, von dort aus neue Ziele anzusteuern oder die Dauer meines Aufenthalts beliebig verlängern zu können. Es war komisch, meinen Namen auf den Reisedokumenten zu sehen: Jupiter Nostromo. Tatsächlich, dass bin ich. Komisch, das man sich selbst so selten mit Namen anspricht. Wenn man alleine lebt, braucht man keinen Namen. In Geschäften oder an Tankstellen wird man nicht mit Namen angesprochen. Einen Namen braucht man nur, wenn man regelmäßig mit den gleichen Menschen Kontakt hat. Ansonsten ist ein Name nichts wert, er ist nur ein Symbol, eine alltägliche sprachliche Routine, hinter der sich eine Person in ihrer ganzen Vielfalt verbirgt. Der Name vereinfacht, er macht zugleich das Reden einfacher und ist dennoch eine verhängnisvolle Simplifizierung. Er ist eine oberflächliche Beschriftung, genauso armselig wie die Berufsbezeichnungen, die wir uns auf die Stirn pappen und mit denen wir mit falschem Stolz umherspazieren. Der Name ist nicht wichtig, denn er sagt über mich nichts aus. Gar nichts.
Ich setze mich mit einer Zeitung und einem Kaffee in die Wartehalle. Sobald man einen festen Platz hat, und in Flughäfen genügt hierzu schon eine zehnminütige Bewegungslosigkeit, fühlt man sich gleich wohler. Zerstreut durch die vielen Belanglosigkeiten aus aller Welt und Myriaden von Zahlen der Sport- und Finanzseiten besteige ich mit einem angenehmen Gefühl völliger Gelassenheit das Flugzeug. Vom Fenster aus kann ich den Mond sehen. Irgendwo dort muß das Meer der Ruhe sein. Ich bestelle mir einen Wodka. Unwillkürlich denke ich an Wenedikt Jerofejews „Reise nach Petuschki“, vordergründig so finster und dahinter voller Heiterkeit. Was in diesem Buch nicht alles gesoffen wird! Der helle Wahnsinn. Dagegen erscheint mir meine Bukowski-Lektüre im zarten Alter von vierzehn Jahren wie die Vorbemerkung einer Einleitung zum Kausalnexus von Alkohol und Literatur. Ob ich in Buenos Aires eine deutsche Ausgabe bekomme? Ich muss es unbedingt noch einmal lesen. „Und, Jupitschka“, werdet ihr jetzt alle fragen, „was hast du noch getrunken?“ Nun, ich trinke noch etwas von dem Roten, den Kopf nach hinten geworfen wie ein Pianist. Und läge mein Köfferchen nicht in einem Gepäckraum unter mir, würde ich es jetzt ganz fest an mich drücken.
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