Sonntag, 2. November 2014
Ödland, Kapitel 2
Mein Rhythmus gerät durcheinander. Manchmal wache ich um drei Uhr morgens auf und weiß genau, dass ich nicht mehr schlafen werde. Ich beginne zu lesen oder ruhelos im Haus hin und her zu laufen. Welche Bedeutung sollte die Zeit auch für einen Menschen haben, der keine Termine mehr hat? Es gibt niemanden, der den Kopf schütteln würde, wenn ich mir am frühen Morgen ein „Mittagessen“ zubereitete oder nachmittags Lust auf ein „Frühstück“ habe. Ich muss auf niemanden mehr Rücksicht nehmen, niemand erwartet, dass ich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort und bei einer bestimmten Aktivität anzutreffen bin. Ich habe keine Verabredungen mehr. Früher war mein Terminkalender voll bis zum Erbrechen, darunter naturgemäß viele Treffen mit langweiligen und penetranten Gestalten, die ich nur aus beruflichen Gründen wahrnehmen musste. Ich hatte einen festen Rhythmus, ja eigentlich einen fast maschinenmäßigen Takt, in den meine alltägliche Existenz eingewoben war. Um 6:30 Uhr stand ich auf, um 7 Uhr frühstückte ich mit Frau und Kind, dann ging es ins Büro, wo ich um 8 Uhr ankam. Nach ersten Erledigungen und Durchsicht der elektronischen Post gab es um 9, spätestens um 10 Uhr die erste Besprechung. Das Mittagessen um 13 Uhr nahm ich im Regelfall in Form einer Einladung durch einen sogenannten „Interessenvertreter“ zu mir, der mir um den Preis eines Schnitzels Arien des Selbstmitleids zur Situation gerade seines Berufsstandes oder seines Unternehmens vortrug. Nachmittags und abends gab es oft Ausschusssitzungen und Arbeitskreise. An glücklichen Tagen kam ich bereits um 18 Uhr nach Hause, widmete mich dem Familienleben und versuchte, am späten Abend noch ein wenig Zeit für mich selbst zu finden. Musik hören oder einfach nur ins unruhige und doch ungemein beruhigende Kaminfeuer starren.
In all den Jahren habe ich es nicht geschafft, ein Buch zu lesen. Tagsüber musste ich zahllose Vorlagen und Entwürfe zu Vorlagen lesen, die irgendwann in Schubladen verschwanden oder in winzigen Änderungen bestehender Gesetze und Verordnungen mündeten. Also fehlte mir für dieses Vergnügen die abendliche Muße und Lust. Andere Formen des bürgerlichen Eskapismus wie Theater- und Konzertbesuche litten ebenfalls unter der beruflichen Anspannung und Belastung. Wahrscheinlich habe ich in den letzten dreißig Jahren häufiger Weihnachten gefeiert als Ausstellungen besucht. All das habe ich nachgeholt, nachdem ich mich aus dem Berufsleben und der Politik zurückgezogen habe. Aber nach Kerstins Tod fehlte mir jeder Anlass, solche Veranstaltungen zu besuchen. Und irgendwann fehlte mir auch jeder Anlass, meinem Leben einen Rhythmus zu geben. Ich lasse mich durch die Zeit treiben. Ich lese viel, eigentlich kann ich sagen, erst jetzt nutze ich meine Bibliothek und schaue in all die vielen tausend Bücher, die ich mir – teils aus schlechtem Gewissen angesichts meiner Kulturferne, teils aus Vorfreude auf den „Lebensabend“, der ja doch irgendwann einmal kommen musste – im Laufe langer Jahre angeschafft hatte. Ich warte einfach auf Momente der Lust: Lust zu malen, Lust zu lesen, Lust zu schlafen, Lust zu essen. Es ist eine ungeheure Freiheit, die ich habe. Ich besitze auch genug Geld, um weitergehende Gelüste zu befriedigen. Ich könnte durch die ganze Welt reisen, ich könnte kostbare antiquarische Bücher oder Gemälde berühmter Meister kaufen. Aber diese Freiheit ermüdet mich zusehends. Dieses In-sich-hinein-horchen ist mir im Laufe der Zeit eine ebensolche Anstrengung geworden wie der immerwährende äußere Druck meiner Berufstätigkeit.
Ich habe mich im Übrigen rechtzeitig aus dem Beruf zurückgezogen, bevor ich einer dieser alten Männer wurde, die sich in den Augen junger Menschen durch ihre Selbstgefälligkeit und ihr autoritäres Gehabe vollends lächerlich machen. Die ihre verstummte Kreativität hinter Routine und Hierarchiegläubigkeit verstecken. Die sich zynisch über die leicht entflammbare Begeisterung der Jugend lächerlich machen, in Wirklichkeit aber verbittert und neidisch sind. Verbittert über den Verlust eigenen Ideenreichtums oder persönlicher Ideale, neidisch auf die neuen Ideen, auf die man selbst nicht gekommen ist und auch nicht mehr kommen wird. Die ihren Thron nicht räumen, sondern mit Gewalt vertrieben werden müssen. Die nicht loslassen können, weil nach der Berufslaufbahn nur noch das schwarze Loch des Alters und des Todes droht. Die ihre schwindende Macht ein letztes Mal an Mitarbeitern und Kollegen auslassen müssen. Die mit den Händen in den Hosentaschen großspurig ihre Ratschläge und Lebensweisheiten in eine Welt hinausposaunen, die darauf garantiert nicht gewartet hat. Deren Klappe immer größer wird, je tiefer die Hände in die Hosentaschen wandern. Deren erloschene Gesichter jede Sitzung mit bleierner Grabesstimmung überziehen. Die ihre persönlichen Einsichten in den Rang eherner Weltgesetze erheben. Man sollte über meinen Abgang Bedauern empfinden können und nicht etwa Erleichterung. Ich wollte aus dem fortwährenden Veränderungsprozess aussteigen, bevor ich seine Geschwindigkeit und Richtung nicht mehr begreife und, wie viele ältere Menschen, störrisch diesen Prozess behindere. Diese Lebensläufe, die mit dem Ruin des eigenen Rufs als Fachmann enden, kenne ich zur Genüge. Kurz: Ich bin gegangen, bevor ich ein seniles Arschloch wurde.
Arbeit ist eine Möglichkeit, seine Zeit zu verbringen. Wenn man genug Geld hat, werden andere Betätigungen interessanter – zumindest für Menschen, denen es vor der Freiheit der eigenen Entscheidung nicht gruselt. Aber es waren Menschen um mich, als ich in den Ruhestand ging. Ich wollte gemeinsam mit meiner Frau alt werden. Ich hatte die romantische Vorstellung, in ihren Armen zu sterben. Aber jetzt bin ich allein. Und ich hätte nicht gedacht, wie schwer es ist, alleine frei zu sein. Früher musste ich meinen Terminkalender mit vielen Menschen abstimmen, ich musste so vieles miteinander vereinbaren: die beruflichen Verpflichtungen, die eigene Familie, die Freunde, die Verwandtschaft, die persönlichen Neigungen und die sogenannten gesellschaftlichen Verpflichtungen. Es war eine ungeheure Menge verschiedener Einflüsse, die meinen Alltag prägten. Jeden Tag hatte ich in großer Eile Entscheidungen zu treffen. Letzten Endes musste ich Prioritäten setzen und mich zwischen vielen verschiedenen Menschen entscheiden, die aus den unterschiedlichsten Gründen meine Nähe suchten.
Meine Zeit war knapp. Und sie war wertvoll. Wer aus dem äußeren Ring meiner persönlichen Beziehungen einen Termin zum gemeinsamen Mittagessen bekam, fand den Augenblick bedeutend. Meine Anwesenheit an einem bestimmten Ort hatte einen Wert. Mein Terminkalender war voll mit zahllosen Menschen und Interessen, ich verfolgte viele Ziele und hatte nur am Wochenende Zeit, darüber nachzudenken, was ich eigentlich wollte. Wenn zu viele Menschen deine Nähe suchen, musst du eine Auswahl treffen. In diese Situation kommen nur wenige. Aber was will ich eigentlich? Der Durchschnittsmensch ist froh, wenn einige wenige Gestalten Anteil an seinem Leben nehmen. Wenn es zu viele werden, muss man Kriterien der Auswahl finden. Im Berufsleben war es einfach: Wer mir nutzte, war mein Gesprächspartner, Gast und womöglich auch mein Freund. Aber privat? Und so wanderten Tausende von Namen durch meinen Terminkalender und nichts ist davon übrig geblieben. Stapel von Visitenkarten, unübersichtliche Verzeichnisse von Mail-Adressen. Aber eigentlich ist diese ganze Form des Lebens zu Staub zerfallen. Es gibt keine Sekretärin mehr, die Termine macht. Es ist nicht mehr eilig, nicht mehr wichtig. Ich bin nicht mehr gefragt. So wollte ich es. Dennoch stört es mich. Früher war es ein Privileg, nicht für jeden erreichbar zu sein, heute ist die Einsamkeit bisweilen eine schwere Last. Denn so einsam und vergeistigt sollte mein Leben gar nicht sein. Insbesondere in einer Zeit, da mich mein Geist zu verlassen beginnt. Ich werde alt. Und alleine wird man schneller älter als erwartet.
Wie geht es weiter? Was soll ich mit meinem restlichen Leben noch anfangen? Ich habe alle wichtigen Werke der Philosophie, der Literatur und der Religion dazu gelesen. Ein Jahr voll intensivem Lebens- und Kunstgenuss habe ich gebraucht, um mich von den Denkweisen und Gewohnheiten meines Berufs zu lösen. Einen Text nicht diagonal zu lesen und eilig auf seinen Informationsgehalt zu überprüfen, sondern einen Roman in Ruhe zu lesen. Ein Bild oder einen Ausblick in Ruhe zu genießen, im Museum oder in den Bergen nicht mit der ruhelosen Masse weiterzuziehen, sondern ganz in eine Betrachtung versinken zu können. Das war mir zuletzt als junger Mann vergönnt. Es gibt im Prinzip zwei Antworten: eine sehr banale und eine mühselige. Beginnen wir mit der Mühsal: Du musst dein Leben vollkommen verändern und es mindestens ein Jahrzehnt einer grausamen Tortur der Sinnsuche unterziehen, inklusive merkwürdigen Ernährungsgewohnheiten, körperlichen Übungen und Gesprächen mit Menschen, die wir eigentlich gar nicht kennen wollen. Hierzu gehören endlose Lesemarathons in studentenverseuchten Bibliotheken, Reisen nach Indien und in den Himalaya, Volkshochschulkurse über Buddhismus und fruchtlose Kneipengespräche über Tantrasex. Die banale Antwort ist natürlich nur auf den ersten Blick banal. Aber es ist alles in uns, was wir dazu benötigen. Es ist die Heimwerker-, die Do-it-yourself-Version der Sinnstiftung: Im Grunde bieten uns die entsprechenden Bücher, nehmen wir meinetwegen den „Steppenwolf“ von Hesse als beliebiges Beispiel, nur drei Auswege aus dem Elend der Wirklichkeit und der geistlosen Dürftigkeit des alltäglichen Lebens: Kunst, Liebe und Rauschmittel. Im Grunde ist man also mit dem Motto „Sex, Drugs and Rock’n Roll“ gut bedient – ebenso wie man sich mit Kants Kategorischem Imperativ das Studium ganzer philosophischer Bibliotheken ersparen kann.
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