Sonntag, 2. November 2014
Ödland, Kapitel 1
Ich habe alles gehabt. Mein Name war in allen wichtigen Publikationen dieser Republik. Mein Gesicht war im Fernsehen. Meine Stimme im Radio. Immer und immer wieder. Es gab einen Zeitpunkt, da zog ich mich gelangweilt in mein Landhaus zurück, stellte mir vor, was dereinst auf der Messingplatte stehen möge, die man sicherlich nach meinem Tod am Gebäude anbringen würde, und wartete auf die Busladungen von Japanern, die sicher nichts Besseres zu tun hätten, als auf dem Bürgersteig herumzulungern und zu fotografieren. Aber die Japaner sind nie gekommen. Und es ist still geworden hier.
In früheren Zeiten ekelte ich mich bisweilen vor der Nähe der Menschen. Dienstliche Besprechungen, öffentliche Auftritte, fremde Menschen, die sich plötzlich an dich drängen und deine Nähe suchen. Eigentlich die Nähe zu etwas anderem, zu deiner Position, zu deinem Einfluss, an dem sie glauben, nur durch bloße physische Annäherung teilhaben zu können. All das war mir unbehaglich. Ich trug mein Amt wie eine Monstranz vor mir her, obwohl niemand besser als ich wusste, wie sehr ich dem Zauberer von Oz ähnelte, der allein mit seinem beeindruckenden Auftritt von der Dürftigkeit des Amtsinhabers abzulenken hoffte. Aber das Amt schützte mich zugleich wie ein Panzer. Die ehrfürchtigen Blicke, das Stottern, die Unnatürlichkeit – all das galt nicht mir, sondern meiner Hülle. Und ich hatte das Privileg, gute Worte durch den Panzer zu mir dringen zu lassen und schlechte Worte meiner Behörde und meiner Partei anzulasten.
Heute wünsche ich mir Gesellschaft. Aber ich bin allein in meinem Haus. So allein, wie ich es mir immer gewünscht habe. Aber ein Wunsch kann auch bis zum Überdruss erfüllt werden. Dieses Maß an Einsamkeit ist für einen einzelnen Menschen unerträglich, soviel zur Ironie der Situation. Übermaß und völligen Mangel an menschlichem Kontakt gab es in meinem Leben reichlich. Aber ich habe nie ein ausgeglichenes Verhältnis erlebt. Die Schnittmenge von vielen Menschen und keinem Menschen in deiner Nähe ist ein Mensch. Dieser Mensch war Kerstin. Ich wollte nicht so früh von ihr sprechen. Aber meine Gedanken kehren immer wieder zu ihr zurück. Sie war so jung, als sie gestorben ist. Und ich bin jetzt ein alter Mann.
Sicher, ich bin der ironische Skeptiker meiner Jugendzeit geblieben. Aber der Anzug aus Fleisch ist doch sehr schlaff geworden. An der Wursttheke des Kleinstadtsupermarkts würde niemand von mir revolutionäre Kritik am herrschenden Konzernkapitalismus erwarten. Mit meinen kurzen grauen Haaren und der städtischen Kleidung würde man mich ohnehin beim ersten Anblick dem Lehrerberuf zuordnen und bereits innerlich Abstand von mir genommen haben, bevor ich noch einen guten Tag wünschen kann. Einer wie ich ist auch in der Menge eines Volksfests der einsamste Mensch, den man sich vorstellen kann. Einsamer könnte in der deutschen Provinz, in dieser ehernen Festung der Geistesferne, nicht einmal das verlorene japanische Schaf aus der ausgebliebenen Touristenherde sein.
Daher ziehe ich mich zurück. Ich beschränke meine Ausflüge in die Außenwelt auf ein überschaubares Minimum. Und selbst diese Ausflüge führen mich häufig zum Gefühl der Einsamkeit zurück. Es reicht ein Blick in die mit warmem gelbem Licht gefüllten Fenster einer alten Backsteinvilla oder auf ein junges Liebespaar, das abends auf einer Parkbank sitzt oder meinetwegen des Gelächter, das aus Wirtshäusern oder von Kinderspielplätzen schallt. Manche Menschen verrohen in der Einsamkeit, andere werden empfindsam bis zur Schreckhaftigkeit. Die Ereignislosigkeit bläst jede winzige Veränderung zu einer Bedrohung auf. Ein fremdes Gesicht auf dem Bürgersteig vor ihrem Haus setzt eine Kette von Überlegungen in Gang, die von Misstrauen und Angst geprägt sind. Wenn nichts passiert, kann alles eine Gefahr sein. Die Sicherheitsfirmen verdienen ein Vermögen an dieser aus Langeweile geborenen Furcht. Ich habe mir bisher die Gelassenheit bewahrt, dieses Haus allein und ohne Angst zu bewohnen. Und ich habe den Respekt vor unbekannten Menschen nicht verloren, wie viele einsame alte Menschen. Meine Verachtung gilt nur den bekannten Wesen in meiner Nachbarschaft.
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Es war so schön. Und so furchtbar. Danke.
AntwortenLöschenAber müssen Wir Uns Sorgen machen ?