Sonntag, 2. November 2014

Ödland, Kapitel 6

Immer wieder wandern meine Gedanken zur Politik zurück. Der Zusammenbruch der Bundesrepublik wird anders sein als der Zusammenbruch der DDR. Der DDR wurden alle wichtigen Stützpfeiler weggetreten, als Michail Gorbatschow im „Ostblock“ die Macht übernahm: Ohne die ideologischen, militärischen und ökonomischen Korsettstangen der Sowjetunion, des Kommunismus und des Warschauer Pakts bedurfte es nicht viel, um den morschen Bau einzureißen. Und es hat nicht lange gedauert. Die Bundesrepublik wird wesentlich mehr Zeit für ihren Untergang benötigen. Sie verfault und verrottet langsam von innen, sie verfällt allmählich und zehrt dabei noch einige Jahrzehnte von ihren angehäuften Reichtümern. Der ungeheuren geistigen Verwahrlosung dieses Landes wird der physische Verfall folgen. Erst viel zu spät wird man von außen sehen, wie heruntergekommen und antriebslos die Bewohner dieses Baus sind, wie man auch von rissigen und abblätternden Häuserfassaden erst viel zu spät auf das wahre Ausmaß des Elends der dahinter lebenden Menschen schließen kann. Es wird „Was wurde eigentlich aus ...?“-Stories über Deutschland geben. Was wurde aus dem Land der aggressiven Lebenshetze und der lauwarmen Halbheiten? Aber wir können nicht anders, als an uns selbst zu glauben. Alles andere wäre der sofortige Untergang. Wir leben lieber in der Lüge als im Selbstzweifel. Also biegen wir uns die Tatsachen immer wieder so zurecht, dass wir vor uns selbst bestehen können. Auch wenn dieses Selbstbild, so muss man inzwischen feststellen, auf einer Traum- oder Märchenwelt errichtet wurde.
Heute muss ich diese Machtspiele nicht mehr spielen. Wenn man die Regeln kennt und zu oft gewonnen hat, wird man müde. Dein Rang und dein Gefolge, deine Durchsetzungskraft und manchmal auch deine Lautstärke prägen die Debatten, nicht Argumente. Fraktionen in Diskussionen bilden, um sie im Anschluss gegeneinander auszuspielen. Im Zweikampf zählt einzig der Blick: Wer beim gegenseitigen Fixieren zuerst den Blick senkt, hat verloren. Und in einem hierarchiegläubigen Staat wie Deutschland sinkt mit dem beruflichen Aufstieg die Notwendigkeit, mit Vernunft überzeugen zu müssen. Du kannst schweigen und lächeln. Wer viel reden muss, steht unten. Oben setzt man eine überhebliche Miene auf und entscheidet dann. Und ich muss auch keine Journalisten mehr treffen, diese gewissermaßen berufsmäßigen Vertreter der öffentlichen Neugier, diese fleischgewordene Ungeduld der Masse.
In Fernando Pessoas „Buch der Unruhe“ beschreibt der Protagonist ein Foto der Belegschaft, der er angehört: in der Mitte der Chef, Stärke und rotbäckige Zuversicht ausstrahlend, um ihn herum seine „Offiziere“, zum Rande hin ausufernd das weitere Personal und schließlich der Hilfsbuchhalter selbst mit schmalem, blassem und ausdruckslosem Gesicht. Wenn man so etwas wie Karriere macht, wandert man auf diesen Fotografien allmählich vom tristen Bildrand in die strahlende Mitte. Ich habe meine Zeit dort verbracht. Jetzt bin ich aus dem Bild verschwunden. Und es ist mir gleich, welche neuen Gesichter nun auf Wanderschaft sind.
Wenigstens ist meiner Generation der Blutzoll erspart geblieben, den noch in den beiden Weltkriegen jedes Dorf zu leisten hatte und das in eintönigen Kriegerdenkmälern überall dokumentiert ist. Eingraviert die Namen der jungen Menschen, die nicht mehr nach Hause gekommen sind. Ein Opferkult, über den die Nachfahren jener Inkas und Azteken schmunzeln dürften, deren blutrünstige Rituale die Europäer so gerne hochnäsig verachten. Vielleicht ist Phantasie die Rettung. Wenn wir unsere Phantasie nicht hätten, wären wir längst übereinander hergefallen. Wie oft haben wir in unserer Phantasie Menschen gequält und ermordet, die uns verhasst sind? Mal ganz ehrlich: In Gedanken haben wir schon Hunderte gemeuchelt, in der Ehe, am Arbeitsplatz, im Straßenverkehr. Schon der Blick in eine gewöhnliche Tageszeitung kann den Hass in dir auflodern lassen. Diese Form virtueller Gewalt – der wir auch in Computerspielen huldigen – kennen wir alle. Und sie hat uns womöglich das Leben gerettet. Wir morden im Geist und leben in der Wirklichkeit doch recht friedlich miteinander. In der Phantasie leben wir die Möglichkeiten aus, ohne sie in der Realität überprüfen zu müssen. Schließlich wäre der erste tatsächliche Mord wahrscheinlich auch der letzte. In Gedanken können wir stets aufs Neue die Waffe heben und den Puls fliegen lassen.

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