Freitag, 21. November 2014
Berliner Reisenotizen
„Der große Mann bewahrt sein kindliches Herz.“ (Mong Dsi)
In der Stunde, bevor die Stadt erwacht, ist alles ruhig. Kein Gewitter würde es wagen, die Stille zu durchbrechen. Keine Polizeisirene, kein Lastwagen, kein Betrunkener. Das erste Licht trifft den ersten Klang und es ist immer ein Singvogel, dem die Ehre gebührt, mit seinen zarten Tönen die große Stadt zu wecken. Damit beginnt alles. Minuten später höre ich das dunkle Brummen des ersten Autos und langsam beginnt das Konzert Berlins. Es fehlt nur noch, dass die an den Müllwagen hängenden Männer singen wie Gondoliere und ihre Hüte schwenken.
Die früh verblühten Schönheiten des Proletariats, die am Hermannplatz mit einem Kinderwagen auf die U-Bahn warten.
Ein Nachmittag mit dem Bus durch Marzahn und Hellersdorf. Die DDR ist so nah, 2014 so weit weg. Nur die Brandzeichen der Konzerne auf der Bekleidung, den Taschen und Schuhen der Jugendlichen erinnern an die Gegenwart. In Hönow steige ich wieder in die U-Bahn. Der Bahnhof gehört noch zu Berlin, auf dem Bürgersteig beginnt Brandenburg. Die Kinder sind auf dem Weg zum Schwimmen oder Turnen. Der freundliche Ein-Euro-Jobber mit der Kippe im Mundwinkel, der Laub harkt und mir den Weg erklärt.
„Übergewicht in Deutschland nimmt zu“, lese ich in der U-Bahn auf dem Monitor.
Ich erinnere mich, dass ich 1985 eine Kurzgeschichte geschrieben habe, in der es um die Flucht über eine Grenze ging. Der Protagonist kriecht durchs Gras, läuft von Baum zu Baum und versucht, nicht von den Grenzsoldaten auf dem Wachturm entdeckt zu werden. Als er es endlich auf die andere Seite schafft, merkt er, dass dort nichts ist. Nur eine Landschaft, die auf eine riesige endlose Wand aufgemalt ist. 1985 kafkaesk und surrealistisch – 2014 eine Allegorie auf die vergebliche Flucht der Ostdeutschen? Vielleicht gibt es gar keine Freiheit, in die man flüchten kann.
Was mir in Berlin aufgefallen ist: Menschen essen im Gehen, auf dem Fahrrad, im Auto oder in der U-Bahn. Auf dem Land sieht man Menschen nur in geschlossenen Räumen essen. Ausnahmen: Grillen, Volksfest.
Bei der Anreise habe ich Erfurt besucht und mir die Altstadt angesehen. Nach einem einstündigen Rundgang lasse ich mich am Domplatz nieder und bestelle ein vorzüglich mundendes „Schnitzel Atemlos“, das seinen Namen vermutlich der Knoblauchcremesoße verdankt, die separat in einer Sauciere serviert wird (diese empfehlenswerte Methode verhindert ein Aufweichen der Panierung (fälschlicherweise oft als Panade bezeichnet)). Versuch einer Wiedergutmachung? Helene Fischer ist schließlich in meiner rheinhessischen Heimat aufgewachsen, nachdem die Russen sie rausgeschmissen hatten. Das Hasseröder Schwarzbier schmeckt ausgezeichnet und hat eine Karamellnote im Abgang.
Danach habe ich noch einen Zwischenaufenthalt in Naumburg. Warum hält hier ein ICE? Kurzer Spaziergang durch die Bahnhofsgegend. Direkt gegenüber auf dem Vorplatz ist das Arbeitsamt, wenige Schritte weiter eine Baracke namens „Hotel Kaiserhof“. Ein Getränkemarkt, cruisende Glatzen, zwei Imbissbuden, ich bin der einzige Nichtraucher. Dicke Jugendliche unterhalten sich in einer Mischung aus amerikanischem Medien-Slang und Dialekt. Von was träumen die jungen Menschen hier? Hausmeister in Halle werden, DJ in Dresden? Ein Mann um die Dreißig mit Base-Cap und ausgebleichter Jeans-Jacke trägt auf dem linken Arm ein Kleinkind und durchwühlt mit der Rechten die Mülltonnen nach Pfandflaschen.
Ist Ihnen auch schon einmal aufgefallen, dass Graffiti ausschließlich gesellschaftskritisch sind und nie die bestehenden Verhältnisse loben? Die Kritik findet man an den Häuserwänden, das Lob in den Medien. „Mit dem Smartphone machen sie dich kaputt“ (an der Bahnstrecke kurz vor Rüsselsheim). „Auch ohne mich“ (Erfurter Altstadt). „Die kapitalistische Avantgarde angreifen“ (Berlin, in der Nähe des ehemaligen Grenzübergangs Bornholmer Straße).
Ich reise immer mit einem Notvorrat an Literatur in der Jackentasche, diesmal ist es ein schmales Reclam-Bändchen Flaubert. Auf der Rückfahrt von Berlin nach Bingen beobachte ich einen sehr dicken Mann, der langsam eine Tüte Chips vertilgt. Es gibt DVDs mit Walgesängen und Urwaldbildern – warum nicht mal so was? Ich fand den Anblick sehr entspannend. Wie eine Lavalampe.
Zwei Wochen ohne Medien. Wie gelassen man wird, wenn man weiß, dass man nichts verpasst. Ein Leben ohne Mord, ohne Skandal, ohne Katastrophe. Ohne den bunten Konfettiregen aus Nachrichtensplittern, ohne den unverdaulichen Brei aus unzusammenhängenden Informationen zu tausendundeinem Thema. Eigentlich darf man keinen Tag aussteigen, keine Folge der Serie verpassen - sonst ist man vom Karussell gefallen und kapiert gar nichts mehr. Kafka hat einmal über die Lektüre von Zeitungen gesagt, es sei wie mit dem Rauchen, „man muss den Unterdrückern die eigene Vergiftung bezahlen.“
Zum Schluss möchte ich Heinrich Böll das Wort überlassen: „Es war ganz finster geworden, als wir ausstiegen. Dunkel und warm. Und als wir aus dem Bahnhof traten, schlief das kleine Städtchen schon fest. Ruhig und geborgen atmeten die kleinen Häuser unter sanften Bäumen.“
P.S.: Hier noch ein Witz aus dem Osten. Keine Ahnung, wer ihn mir erzählt hat, keine Ahnung, wer ihn erfunden hat.
„Im DDR-Radio: Beim nächsten Ton ist es acht Uhr. Piep. Und nun noch eine Sonderdurchsage für die Herren von der Volkspolizei: Acht ist, wenn der große Zeiger nach oben zeigt und der kleine auf die Brezel.“
Skunk Anansie – Hedonism. http://www.youtube.com/watch?v=uy6YCtWS3BU
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Sehr stimmungsvoll geschrieben. Und auch wieder mit Absätzen im Feed. Das Bild mit dem dicken Chipsesser gefällt mir. Marktlücke?
AntwortenLöschenWenn du die DVD rausbringst, verlange ich nur die üblichen 20 Prozent ;o)
LöschenBist du denn dick genug um die notwendige Gemütlichkeit zu fabrizieren? :)
LöschenNach zwei Wochen Berlin, in denen ich bis zu drei Restaurantbesuche täglich absolviert habe, bekomme ich schon Atemnot, wenn ich mir nur die Schuhe zubinde. Zu diesem Thema gibt es in den nächsten Tagen noch einen Extra-Text.
LöschenUnd in Sachen Langsamkeit bin ich ohnehin nicht zu schlagen. Man nennt mich in gewöhnlich gut informierten Kreisen auch "Häuptling Lärm einer fallenden Feder".
Dann wäre noch die Frage der Hintergrundmusik zu klären. Ich schlage ausgewählte 45rpm-Singles vor, die wir mit 33 rpm abspielen.
Hörbeispiel: DEVO - WHIP IT 45 rpm single played at 33rpm. http://www.youtube.com/watch?v=c6aISwBuRas