Sonntag, 2. November 2014

Ödland, Kapitel 9

Als ich aufwache, liegt bereits wieder Festland unter uns. Der Flughafen von Buenos Aires zeigt noch einige verwitterte Spuren der Feierlichkeiten zur zweihundertjährigen Unabhängigkeit Argentiniens 2016, ansonsten prangen die Feldzeichen des internationalen Konzernkapitalismus auch hier an allen Wänden. Das ist nun schon einige Jahre her. Der künstlerische Ausdruck der staatlichen Propaganda ist von mitleiderregender Glanzlosigkeit. Immer, wenn es der Gesellschaft gut geht, wird die Kunst langweilig. Wir sollten uns jedoch der langweiligen Kunst erfreuen, denn sie zeigt uns wie ein Spiegel unser unbeschwertes kleines Glück in einer historischen Lücke zwischen zwei Tragödien. Der Idealismus, die Begeisterung, die sich früher in großer Kunst oder in großen Aktionen ausgedrückt hat, ist ins Private geflüchtet. Dort treibt das Bedürfnis nach Orientierung jenseits des Alltags skurrile Blüten: Horoskope, Diäten, Home-Shopping usw. Wäre es Satire, müsste man lachen. Aber es ist wahr. Es gibt eine Million völlig unsinnige Privatreligionen. Elvis-Fans sind noch die harmlosesten Verrückten. Aber schon die sogenannte „Volksmusik“ ist eine Brutstätte des Terrorismus, wartet es nur ab!
Mit einer kleineren Maschine fliege ich nach Perito Moreno weiter, einem idyllisch an einer Lagune gelegenen Viehzüchterstädtchen weit im Süden des Landes. Ankunft. Ich bin an der Endstation. Bin ich zu beneiden? Einerseits bin ich endlich angekommen, andererseits geht es nicht mehr weiter. Sollte ich diejenigen beneiden, die noch auf der Fahrt sind? Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen Mensch und Tier ist die von einer durch nichts begründeten Hoffnung begleitete Fähigkeit, alle uns betreffenden Ereignisse als Vorgänge erscheinen zu lassen, deren Ausgang wir genau so geplant hatten. Wir akzeptieren nicht, dass es der Zufall (Glück, Pech usw.) ist, der unser Leben vorwiegend bestimmt. Nein, so wie es jetzt ist, haben wir es immer gewollt. Trotzig wird von vollständiger Zufriedenheit gesprochen. Das behaupten wir alle tapfer gegenüber anderen, das reden wir uns selbst ständig ein. Also war es gut, hier zu sein. Und es war gut, bereits in Buenos Aires einen Wagen gemietet zu haben, den ich hier nur unter Vorlage einer Chipkarte abzuholen hatte, denn mein Spanisch bestand im Großen und Ganzen aus Lächeln und Kopfnicken.
Patagonien, das öde Ende der Welt. Ich fühle mich nicht nur frei, ich bin es. Bin ich ein Zyniker geworden? Ein Zyniker kann alles, weil er nichts mehr zu verlieren hat. Er dokumentiert mit seinem Todesmut seine mühsam angelesene Weltverachtung. Wer sein Leben aufgibt, hat den letzten Grad der Freiheit erreicht. Er kann über alles lachen, er kann jeder Schauseite des Schicksals ins Gesicht lachen, jede autoritäre Fratze anspucken, jedes falsche Gefühl verächtlich machen, jede Konvention brechen - weil er nichts mehr zu verlieren hat. Niemand kann einen Zyniker enttäuschen, es ist unmöglich. Darum sind die Zyniker auch die fröhlichsten Menschen der Welt.
Ich setze mich in meinen Wagen und fahre los. Bald habe ich die letzten Häuser der Stadt hinter mir gelassen. Vor mir eine Wüste aus Gras. „Nackt, dem Froste dieses unglückseligen Zeitalters ausgesetzt, mit irdischem Wagen, unirdischen Pferden, treibe ich alter Mann mich umher“, wie Kafka im „Landarzt“ schreibt. Der klare blaue Himmel lässt alles weit und groß erscheinen. Ich fahre nach Westen, die Straße folgt dem Rio Deseado. Nach einiger Zeit bin ich alleine unterwegs, kein anderes Fahrzeug ist mehr zu sehen. Um mich nur die endlose Grassteppe, unterbrochen von ein paar windzerzausten Sträuchern. Irgendwann stelle ich den Wagen am Straßenrand ab und steige aus. Ich bin überrascht, wie stark der Wind ist. Der Himmel hat durch die Fensterscheiben so sonnig und einladend gewirkt. Ich verlasse die Straße und laufe nach Süden. Meine Thermojacke schützt mich gegen den Wind, kalt ist es nicht, eher angenehm, frühlingshaft. In der Ferne sind einige Hügel zu sehen. Büschelgras und Flächen mit Polstergewächsen lösen einander ab, stellenweise gibt es karge Gebüschgruppen. Die Sonne verleiht allem eine kräftige Farbe, der Himmel kobaltblau, die Erde leuchtend grün. So gehe ich Stunde um Stunde. Die Sonne verschwindet von Zeit zu Zeit zwischen dichten Wolken, die der Wind jedoch rasch weiter treibt. Es regnet nicht, aber manchmal treiben Böen feinen Staub heran, der die Haut wie feines Sandpapier reibt.
Ich komme bald darauf in ein wellenförmig vor mir ausgebreitetes Grasland, das von wenigen schmalen Bächen durchzogen ist. Gelegentlich wird die eintönige Grassteppe von winzigen Wäldern und strauchbewachsenen Hügeln unterbrochen. Hier sehe ich auch die ersten gewaltigen Schafherden in der Ferne. Ansonsten sind fast keine Tiere zu sehen, gelegentlich sehe ich Kaninchen durch das Gras hüpfen. Selten ist auch ein Bussard zu sehen, der still seine Kreise über der Landschaft zieht. Das Wasser der Bäche riecht nach Schafen, ich trinke trotzdem ein wenig. Dann laufe ich weiter nach Süden, den Wind im Rücken. Und so gehe ich ans Ende der Welt.

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