Sonntag, 2. November 2014
Ödland, Kapitel 7
Die kalte graue Leinwand des Himmels, bevor sich der Tag mit der Nacht vermischt. Das Dorf schläft. Bald werden alle erwachen, um ihren belanglosen Beschäftigungen nachzugehen. Nur ich werde hier den ganzen Tag sitzen, allein mit meiner Freiheit, alles tun zu können, was ich tun will. Ich könnte zum Flughafen rausfahren und ein beliebiges Ziel aussuchen. Ich könnte so vieles, um das mich die anderen Dorfbewohner beneiden würden. Aber ich mache es nicht. Und manchmal beneide ich die Dorfbewohner sogar um die Eingeschränktheit ihres Lebens, um die Gedankenlosigkeit ihrer alltäglichen Geschäftigkeit. Sie wissen nicht, was alles möglich wäre – jenseits von Obi, Bausparvertrag und sonntäglichen Kaffeekränzchen mit anderen Zombies. Sie werden nicht gequält von dieser Sehnsucht, all dem hier zu entfliehen. Aber vielleicht will ich ja gar nicht fliehen, sonst hätte ich es ja längst getan. Ich bin für einen Augenblick fasziniert von der hiesigen Ereignislosigkeit, ich sauge die Ödnis dieses Landstrichs wie ein Gegengift zu all den früheren Zeiten in mich auf. Und diese Ruhe. „Das schönste an meinem Bau ist aber seine Stille“, wie es bei Kafka heißt.
Ich habe dieses Haus mit einer Unzahl von Gegenständen angefüllt. Jahrzehntelang habe ich unaufhörlich Dinge hinein getragen. Jetzt habe ich nicht nur den Eindruck, das Haus sei voll. Es ist mir auch, als müsse ich vieles wieder loswerden. Ich spüre denn Wunsch, mich auszuziehen. Mich freizumachen, wie es immer so treffend bei ärztlichen Untersuchungen heißt. „Machen Sie sich bitte frei!“ Eine Aufforderung, die jeden Tag tausendfach in dieser Republik erschallt. Wenn es nur alle verstünden und es einfach täten – nicht auszudenken, was dann passieren würde. Wie ist dein Verhältnis zur Zukunft: Hast du etwas vor oder befürchtest du etwas? Und ich will mich frei machen von vielen Dingen. Andererseits befürchte ich auch unsinnigerweise das Geflüster meiner Nachbarn, wenn ich all den überflüssigen Plunder abholen lasse. Misstrauisch werden sie mit ihren boshaften kleinen Augen hinter Gardinen hervorlugen und sich – später dann auch andere – fragen, ob ich jetzt völlig wahnsinnig sei und den Vorgang bestenfalls als öffentliche Zurschaustellung meines weit über den Dorfdurchschnitt reichenden, ungeteilten und nicht vererbbaren materiellen Überflusses interpretieren. Sie werden sich das Maul zerreißen über die indonesischen Bambustruhen und die afrikanischen Wandteppiche. Sie hätten monatelang zu tratschen über den seltsamen Kauz. Zugleich wären sie erleichtert, etwas mehr über ihren Nachbarn zu erfahren. Auf dem Land muss man alles über seine Nachbarn wissen. Das Leben dieser Menschen ist so langweilig und bedeutungslos, so gnadenlos banal, dass sie jeden noch so winzigen Informationspartikel aufsaugen wie der staubtrockene Boden einen Tropfen Regen. Und weil so wenig geschieht, wären sie insgeheim sogar dankbar für eine solche Abwechslung, die ihnen eine willkommene Gelegenheit böte, ganze Nachmittage mit Lästereien und Getratsche totzuschlagen, und so davor bewahrte, an ihrer eigenen Langweiligkeit und krampfhaften Neugier jämmerlich zu krepieren.
Langeweile ist die Unfähigkeit, mit sich selbst etwas anfangen zu können. Man hält es mit sich selbst nicht aus und schnappt begierig nach der kleinsten Veränderung. Langeweile lässt die Menschen in allem herumschnüffeln. Wie Trüffelschweine wittern sie Neues, wie Bluthunde jagen sie jedes noch so abwegige Gerücht. Und da in diesem Dorf voller gelangweilter Langweiler praktisch nichts geschieht, wird auch nichts vergessen. Hier kann man 1967 einen Auffahrunfall gehabt haben und bekommt die Details noch im 21. Jahrhundert unter die Nase gerieben. Aus einer Armut an Information, an Veränderung, an Dynamik wird eine geistige Armut. Wären diese Menschen mir sympathisch, hätte ich Mitleid mit ihnen. Sie sterben nur sehr langsam an diesem Mangel. Oder besser: sie verlöschen langsam. Tote Augen hinter Fensterscheiben, ohne Hoffnung lauern sie auf etwas Gewaltiges, dass auf dem Bürgersteig geschehen möge. Was für ein leeres und trauriges Leben. Eigentlich müsste man ihnen, wäre man Zyniker, einen Krieg wünschen.
Wenn ich an meine Nachbarn denke, bin ich gern allein in meinem Haus. Ich habe meine Ruhe. Das ist mir wichtig, das habe ich mir ein Leben lang gewünscht: endlich meine Ruhe zu haben. Wie oft bin ich gestört worden, wenn ich irgendetwas tat oder über etwas nachdachte. Ein Anruf, ein unerwarteter Besuch, ein Termin, zu dem ich fort musste. Mit der Zeit wurde ich aggressiv, wenn ich gestört wurde. Wenn jemand versuchte, mich in meinem Bau aufzustöbern. Wenn mein erstes Nein scheinbar überhört wurde. Wenn jemand glaubte, mir gerade in diesem Augenblick seinen Willen aufzwingen zu müssen. Aber ich habe gelernt, mein Nein zu wiederholen. Meine Ruhe zu schützen. Mich zu schützen vor den Störungen durch andere. Wenn ich meine Ruhe haben wollte, war ab einem gewissen Zeitpunkt – ich muss damals Anfang Dreißig gewesen sein – nichts mehr dagegen zu machen. Wer mich kannte, wusste das. Wenn ich nicht gestört werden will, werde ich nicht gestört. Ich will jetzt meine Ruhe haben! Begründung irrelevant. Ende der Durchsage, Ende der Diskussion. Wer es dann immer noch nicht kapiert hatte, konnte mich nur noch brüllen hören, während er das Weite suchte. Jetzt habe ich es geschafft. Es ist ruhig hier. Ich habe meine Ruhe.
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