Dienstag, 13. Dezember 2022

Menschen

 

Ab wann ist man ein Alkoholiker? Wenn man das Bier, den Wein und den Schnaps direkt aus der Flasche trinkt? Das hatte er irgendwann mal gelesen. Er benutzte schon lange keine Gläser mehr. Er lebte allein und hatte keine Arbeit. Also lief er in Unterhosen durch seine Wohnung. Ist man ein Säufer, wenn man morgens anfängt? Früher hatte er das erste Glas am Morgen genossen. Es war inspirierend, es wirkte stärker als das erste Glas am Abend. Aber inzwischen war es einfach egal. Er brauchte Nachschub.

Bis zum nächsten Aldi war es nicht weit. Aber er fror in seiner dünnen Jacke. Die Farben der Stadt wirkten wie ausgewaschen. Zielsicher steuerte er das Weinregal an. Dazu noch ein Toastbrot, für mehr reichte es nicht mehr. Aber das Thema Essen wird ja ohnehin stark überschätzt. Er aß immer weniger. Selbst wenn er sich nachmittags die erste Scheibe Brot mit Marmelade schmierte, hatte er keinen Hunger. Er legte seine Waren auf das Band und murmelte „Hallo“, als die Verkäuferin ihn ansprach.

Sie war gestern im Nagelstudio gewesen und hatte sich neue Fingernägel gegönnt. Weiß, mit Hello-Kitty-Hologrammen. Ziemlich teuer. Aber kein Kunde achtete darauf. Sie waren damit beschäftigt, ihre Einkäufe vor der Kasse aufs Band und hinter dem Band zurück in den Wagen zu legen. Nur beim Bezahlen streiften sie die Kassiererin mit einem kurzen achtlosen Blick. Man hätte ihr Gesicht bei „Aktenzeichen XY … ungelöst“ zeigen können. Niemand hätte sie wiedererkannt.

Da gab es diese neue Aushilfe. Groß, dürr, mit ein paar postpubertären Restpickeln. Sie hatte ihm erklärt, welche Waren aus dem Lager er in welche Regale verteilen soll. Dann hatte sie gesagt, der Chef habe die Heizung runtergedreht. Sonst wäre es hier nicht so kalt. Der Neue hatte nur mit Ja geantwortet. Mehr war ihr nicht eingefallen. Eigentlich gefiel ihr der junge Mann, aber sie wusste nicht, wie sie mit ihm ins Gespräch kommen sollte.

Heute würde ihre Mutter anrufen. Wie jeden Mittwoch. Sie rauchte eine Schachtel Mentholzigaretten am Tag. Sie traf sich mittwochs immer zu dünnem Filterkaffee mit ihren drei Freundinnen. Heute ist sie bei Gisela. Alle Freundinnen haben schon ein Enkelkind, nur sie nicht. Ihre Tochter war Ende zwanzig und hatte immer noch keinen Mann. Was sollte einmal aus ihr werden? Sie war Rentnerin, Witwe und ihr Sohn war mit neunzehn an einer Überdosis Heroin gestorben. Vielleicht hätte er ihr ein Enkelkind geschenkt?

Inzwischen interessiere ich mich nicht mehr für andere Menschen. Es lohnt sich nicht, mit ihnen zu sprechen. Ich habe meine Bücher, meine Filme, meine Träume. Heute Nacht habe ich geträumt, ich würde Geld in einen Süßigkeitenautomat werfen und nichts bekommen. Diesen Traum habe ich sehr oft. Deswegen benutze ich keine Süßigkeitenautomaten mehr. Man bekommt nicht, was man möchte.   

6 Kommentare:

  1. Es gibt Supermärkte, bei denen der Marktleiter bei der Auswahl der Mitarbeiterinnen, ohne :, ein gutes Auge hat.
    "Händchen" hab ich mir jetzt mal verkniffen.
    Bei den anderen kauf ich nicht ein.

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  2. "Inzwischen interessiere ich mich nicht mehr für andere Menschen. Es lohnt sich nicht, mit ihnen zu sprechen."

    Wieder mal Schopenhauer:
    „Das Glück gehört denen, die sich selbst genügen. Denn alle äußeren Quellen des Glückes und Genusses sind ihrer Natur nach höchst unsicher, misslich, vergänglich und dem Zufall unterworfen.“

    ;-)

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  3. Du könntest Dir auch mal neue Fingernägel gönnen , mit Hello-Kitty-Hologrammen.

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    1. Auf meinen Fingernägeln huldige ich ausschließlich Wolfgang Petry.

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