K. begann nun, an einer Rechtfertigung für die Behörde zu arbeiten. Immer, wenn er abends oder nachts aus seiner Stammkneipe nach Hause fand, setzte er sich an seinen Schreibtisch und schrieb an einem längeren Text, in dem er alle Phasen seines bisherigen Lebens beschreiben und alle Entscheidungen für sein vergangenes Handeln begründen wollte. Je länger er darüber nachdachte und je größer der Stapel vollgeschriebener Blätter wurde, desto klarer wurde K., dass er keines Arbeitsvermittlers bedurfte und vielmehr selbst die Dinge in die Hand nehmen musste. Nur eine eigenständige Idee, welche die Behörde überraschen musste, konnte K. wirklich helfen. Vielleicht sollte er dem zuständigen Amt vorschlagen, ihn als Stadtschreiber einzustellen und ihm das einjährige, knapp bemessene Stipendium zu gewähren, welches neben der Wohnung in einem alten Turm der früheren Stadtbefestigung die einzige Vergünstigung für diese Anstellung war. Freilich hatte K. noch nie eine Erzählung oder ein Gedicht geschrieben, hoffte aber, durch aufrichtigen Eifer wenigstens den Anschein zu erwecken, dieser Stellung gerecht zu werden. Als er sich endlich entschlossen hatte, dem Arbeitsvermittler Hump wirklich zu kündigen, war er erleichtert. Die Entscheidung hatte ihm viel Kraft entzogen, er war kaum zum Trinken gekommen. In manchen Nächten - die freilich für die Ausarbeitung seiner Schrift an die Behörde sehr wichtig gewesen wären – musste er daher diverse Pflichtpartien am Skattisch und an der Dartscheibe nachholen. Manche behandelten K. auch einfach wie einen Durchreisenden, Bekanntschaften lösten sich. Der Prozess forderte seinen Tribut. Dennoch gab sich K. freundlich wie immer. In Gedanken bereitete er seinen Besuch beim Arbeitsvermittler vor. Er würde Lilly ein letztes Mal sehen. Das war zu berücksichtigen. K. hatte sich vorgenommen, klar und bestimmt ins Zimmer von Hump vorzudringen, um ihm – ohne freundschaftliche Ausschweifung oder gar Abschwächung, ohne jegliche Rücksichtnahme auf dessen Gesundheitszustand in einer flüssig und bestimmt vorgetragenen Rede den Vermittlungsauftrag zu entziehen. Es war ein trüber, zeitlos und wie erfroren wirkender Nachmittag, als K. zur Agentur aufbrach. Er hatte zur Stärkung einige Biere in seiner Stammkneipe zu sich genommen, ein Schmalzbrot diente als Unterlage, so dass noch der eine oder andere Schnaps ohne weiteres seinen Weg zu K. fand. In den Straßen und auf den Plätzen meist alte Frauen und übergewichtige Männer mit Hunden. K. ging ohne Hast und betrachtete mit eher ironischer Anteilnahme das Leben dieser Stadt. Wie konnte sich dieses Leben überhaupt erhalten? Nirgendwo sah er Menschen, die Arm in Arm gingen oder sich küssten. Dennoch hatte dies alles offenbar Bestand und war mächtig genug, Behörden zu bilden, die einen Spaziergänger wie K. unbarmherzig verfolgen konnten. Diese Behörden verfügten immer über die ausreichende Anzahl an Mitarbeitern, so dass alle Schuld immer vollständig abgedeckt werden konnte. Hier auf einen Fehler zu hoffen, war durch nichts zu rechtfertigen. Das erste Läuten am Haus des Arbeitsvermittlers war, wie gewöhnlich, zwecklos. Erst als K. zum zweiten Mal den Knopf drückte, zeigte sich nach einer Weile ein Augenpaar. Es war jedoch nicht Lilly, sondern der Kaufmann Blöd. Er öffnete die Tür und lief dann mit einem triumphierenden „Er ist es!“ durch die Vorhalle davon. K. trat ein und sah, wie Lilly in Unterwäsche durch eine Seitentür verschwand. K. folgte dem Kaufmann in die Küche, weil er zuerst einen Überblick der vorliegenden Verhältnisse erhalten wollte, noch bevor er seinen eigentlichen Gesprächswunsch zu äußern gedachte. „Sind Sie Lillys Liebhaber?“ fragte K. ohne Umschweife. Blöd sog lautstark die Luft ein und schüttelte den Kopf: „Nein, ich bin Klient wie sie. Aber ich wohne hier, um möglichst rasch auf alle Arbeitsangebote reagieren zu können, von denen der Arbeitsvermittler Hump erfährt.“ Blöd deutete K.s offenen Mund derart, dass er in seinen Erklärungen fortfuhr: „Ich war bis vor einigen Jahren Kaufmann, im Einzelhandel. Aber meine Firma machte pleite. Seitdem bin ich hier bei Hump und bemühe mich um neue Arbeit.“ „Aber das ist ja schrecklich“, entfuhr es K. „Ja, meine ganzen Ersparnisse habe ich Hump gegeben. Schließlich hatte ich nichts mehr. Also lebe ich hier in diesem Schrank“. Und Blöd öffnete wirklich einen kleinen Küchenschrank und zeigte K. das darin befindliche karge Bettzeug. In den oberen Schubladen bewahrte er den Schriftverkehr in seiner Angelegenheit auf. K. musste über die kleine Ordnung des Kaufmanns in diesem Schrank lächeln. Blöd schämte sich ein wenig und wechselte das Thema: „Lilly mag Sie. Lilly wird förmlich von der Faulheit angezogen. Und sie sind genau ihr Typ“. Jetzt lächelte er. K. begriff, dass er gerade mit der unwichtigsten Person in diesem Haushalt sprach. Wo blieb Lilly? Warum war sie denn nicht längst an seinen Hals geflogen, wenn selbst ein tumber Geselle wie der Kaufmann Blöd ihre Zuneigung zu K. richtig erkannt hatte? War der Arbeitsvermittler Hump zu sprechen? K. hatte keinen Termin vereinbart, er war einfach gekommen. Ohne Lilly war er hier hilflos den weinerlichen Selbstbespiegelungen des Kaufmanns ausgesetzt. Zornig riss K., während Blöd sich mit beiden Händen an den Kopf griff und warnend mit den Augen rollte, den Kühlschrank auf, um nach alkoholischen Getränken Ausschau zu halten. In den einzelnen Kühlfächern fanden sich jedoch nur Akten, die den Vermerk „Eilt!“ trugen. Endlich betrat Lilly die Küche. Sie trug einen schwarzen Lederminirock, dunkle Strümpfe und eine helle Bluse. Als sie sich an K. drängte, wehrte er sie zunächst ab. „Du versteckst einen Geliebten in deiner Küche“. Lilly hielt sich beim Lachen die Hand vor den Mund. „Ach, das ist doch nur Blöd. Er haust in einem Schränkchen und verrichtet allerlei nützliche Tätigkeiten für die Agentur. Er darf die Kohlen holen, das ist eine seiner vielen schönen Pflichten“. Blöd strahlte unter diesen Worten, seine Hände gruben sich verlegen in die Mütze, die er zwar in der Wohnung nie aufsetzte, aber dennoch ständig bei sich trug. K. war vorläufig beruhigt und küsste Lilly auf den Mund. Diese Frau verstand es offensichtlich, ihre Arbeit so zu organisieren, dass viel Zeit für ihre eigenen Vorhaben abfiel. K. genoss den Augenblick und schloss die Augen. Als er die Augen öffnete, sagte er zu Lilly: „Melde mich bei Hump an! Am besten sofort.“ Lilly sah ihm eine Weile tief in die Augen. „Ich werde ihm gleich eine Suppe bringen. Dann melde ich dich an.“ Dann senkte sie den Blick und ging zum Herd hinüber. Endlich fand K. bei Hump Einlass. „Ich warte schon sehr lange auf Sie“, sagte der Arbeitsvermittler vom Bett aus und legte ein Schriftstück, das er beim Licht einer Kerze gelesen hatte, auf das Nachttischchen und setzte sich eine Brille auf, mit der er K. scharf ansah. „Diese Mühe werde ich Ihnen nächstens ersparen“, antwortete K. und zog sich einen Sessel ans Bett des Arbeitsvermittlers. Hump lachte, verfiel in ein hässliches lang anhaltendes Husten und lachte dann wieder. „Haben Sie denn nicht wenigstens böse Träume wegen ihrer Arbeitslosigkeit?“ K. schüttelte den Kopf und erwiderte Humps Blick: „Glauben Sie, ich träume, ich würde mich in ein ungeheures Ungeziefer verwandeln?“ Der Arbeitsvermittler vermischte erneut Husten und Gelächter. Er rückte sich umständlich im Bett zurück und erwartete K.s nächsten Satz. „Ich werde Ihnen leider, auch wenn Sie in diesen Angelegenheiten der unendlich erfahrenere Mann sind und ich Ihnen bereits in der ersten Begründung meiner Entscheidung rettungslos unterlegen bin, die Vertretung meines Falles entziehen müssen.“ Der Arbeitsvermittler blieb ruhig und betrachtete eine Weile das Schälchen mit Pralinen, das auf seinem Nachttisch stand. „Sie sind sehr ungeduldig“, sagte er leise. „Ich bin nicht ungeduldig“, antwortete K. schon ein wenig gereizt, „ich habe nur kein sonderliches Interesse an diesem Prozess. Ich weiß ja gar nicht, was man überhaupt von mir will. Ich habe nichts getan.“ Der Arbeitsvermittler lächelte wieder, aber diesmal schmaler, melancholischer: „Das ist es doch aber gerade.“ K. verstand nicht und war jetzt auch durch einige Geräusche abgelenkt, die Lilly offenbar außerhalb des Zimmers verursachte, um ihn zu sich heraus zu locken. Hump rückte seinen Leib umständlich im Bett neu zurecht und begann mit weicher Stimme: „Ich führe hier eine kleine Agentur, die sich auf Fälle wie den Ihren spezialisiert hat. Sicher werden Sie sich wundern, warum ich eine so winzige Agentur führe, wenn mich doch so viele Menschen wie beispielsweise Ihr Freund Günter kennen. Aber ich habe mich aus dem allgemeinen Betrieb zurückgezogen und wende mich den Fällen zu, die ich für wesentlich halte. Es lockt mich die große Arbeit, nicht die vielen kleinen Angelegenheiten der Behörde. Auch wenn es meine Kraft fast vollständig aufsaugt.“ K. glaubte schon zu wissen, was ihn weiter erwarten würde, das seidenartige Geflüster der Berater, das schulterklopfende Treiben in die falsche Richtung des Lebens, schließlich die lebenslange Gehirnwäsche einer Berufstätigkeit. Er hörte Hump nur noch aus Höflichkeit zu. Es würden doch nur unbestimmte Hoffnungen und unbestimmte Drohungen in Humps Reden abwechseln, ohne dass sich für K.s Leben selbst irgendwelche Schlüsse ziehen ließen. K. erhob sich. „Noch lebst du! Noch stehst du unter meinem Schutz!“ rief der Arbeitsvermittler und hob den rechten Arm gegen K. Doch es war zu spät. K. öffnete die Zimmertür und Blöd huschte zwischen seinen Beinen ins Zimmer und stürzte sich auf den kleinen Teppich vor Humps Bett. Nach einem kurzen glücklichen Liebkosen des Stofffetzens richtete er sich auf und küsste die ausgestreckte Hand des Arbeitsvermittlers. Blöd jammerte wie ein kleines Hündchen vor Zufriedenheit, aber der Arbeitsvermittler brummte nur unwillig und drehte sich dann mit einer gewaltigen Bewegung auf die andere Seite. K. sah die Szene bloß aus den Augenwinkeln und rannte wie befreit zum Haustor. Niemand sah ihn, als er hinaus schlüpfte und dem nächsten Gasthaus zustrebte.
(hier endet das Manuskript des 6. Kapitels)
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