Donnerstag, 11. Dezember 2014

Der Verschollene

Die Sonne stand schon am Himmel, als Bonetti die Augen öffnete. Menschen in bunten Turnhosen rannten vorbei. Sie sahen ihn an. Jeder, der an ihm vorüber rannte, sah ihn an. Er passte nicht an diesen Ort. Und seine Bekleidung passte nicht zu dieser Zeit. Für einen Penner war er viel zu gut angezogen. Er trug einen Smoking mit einer karmesinroten Fliege. Und er lag auf einer Parkbank. Vor ihm lag die Strandpromenade, auf der die Jogger entlang hetzten, ohne den Ozean auch nur eines Blickes zu würdigen.
Er stützte sich auf seinen rechten Ellenbogen und hob den Kopf. Die Schmerzen in seinem Schädel waren mörderisch. Er blieb eine Weile in dieser Position. Dann schwenkte er vorsichtig die Beine von der Bank und brachte sich langsam in eine aufrechte Position. Schließlich saß er und lehnte sich erschöpft zurück. Dicke ölige Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Irgendetwas hielt er mit seiner linken Hand umklammert. Er sah hinab. Es war eine goldene Figur. Bonetti lächelte. Die Oscar-Preisverleihung. Er hatte gewonnen.
Erste Erinnerungen an den vergangenen Abend perlten in sein Bewusstsein. Er war auf die Bühne gegangen und hatte unter tosendem Applaus den Academy Award für das beste Drehbuch überreicht bekommen. Dann hatte er eine kleine Rede gehalten, die er längst vorbereitet hatte. Er dankte seinem Produzenten, seinem Regisseur, seinen Darstellern, dem ganzen Filmteam, seinem Bewährungshelfer, seinem Psychotherapeuten und seinem Drogenhändler. Er ließ die Aufzählung ins Absurde abgleiten, bis das Gelächter in spontanen Beifall übergegangen war. Routiniert winkte er in den vollbesetzten Saal und verließ dann die Bühne wieder.
Aber was war danach passiert? Er konnte sich erinnern, dass er seinen Sitzplatz nicht wiederfinden konnte und sich einfach zu Robert de Niro gesetzt hatte. Aber wo war er nach der Preisverleihung gewesen? Das Gesicht von Zacharias „Zyklotron“ Zabelmann tauchte vor seinem inneren Auge auf. Ja, er hatte Zabelmann getroffen. Und dann waren sie in sein Laboratorium gegangen, weil der Wissenschaftler seinem alten Freund Bonetti seine neueste Erfindung vorführen wollte. Irgendeine komplizierte Sache mit Integration und Desintegration. Ein schwarzes Loch im Miniaturformat, so hatte sich der Physiker ausgedrückt.
Bonetti hörte, wie ein Rollo hochgezogen wurde, und drehte sich um. Überall wurden Rolläden hochgezogen, als würden die Häuser an der Uferpromenade gerade erwachen und ihre Augen öffnen. Ein Mann erschien im Türrahmen eines Bekleidungsgeschäfts und kam auf ihn zu. Er trug einen dunkelgrauen Dreiteiler, einen kleinen Hut und hatte trotz des strahlenden kalifornischen Sonnenscheins einen Regenschirm unter dem Arm. Bonetti schätzte das Alter des Mannes, dessen gewaltige Tränensäcke erst auf Höhe der Nasenflügel endeten, auf mindestens sechzig.
„Guten Morgen, Mister Bonetti. Wenn Sie freundlicherweise die Güte hätten, mir zu folgen“, sagte er.
Die Stimme kam dem weltberühmten Schriftsteller aus Bad Nauheim bekannt vor. Er stand auf und folgte dem Mann, der zurück in den Laden ging. Im Inneren des Bekleidungsgeschäfts herrschte schummriges Licht, da das Schaufenster mit zahlreichen Puppen gefüllt war, die Pelzmäntel und riesige Fellmützen trugen.
„Kennen Sie diesen Mann?“ fragte der ältere Herr.
Bonetti trat näher. Ein junger Mann drehte sich zu ihm um.
Es war Franz Kafka.
„Können Sie sich noch erinnern, dass Sie in der vergangenen Nacht in einem sogenannten TFM, einem Temporalfluktuationsmodulator, wie man Zacharias Zabelmanns fabelhafte Zeitreisemaschine auch zu nennen pflegt, ins Prag des Jahres 1922 gereist sind?“
Bonetti starrte Kafka an. Dann starrte er den älteren Herrn an und schüttelte wortlos den Kopf.
„Nun, Sie haben in Ihrem jugendlichen Leichtsinn einen Gast mitgebracht. Sie sagten zu Mister Zabelmann, Sie wollten ihn retten.“
„Sprechen Sie langsam, ich bin Hesse. Ich war heute Nacht auf einer Zeitreise und habe Kafka nach Hollywood gebracht?“ Bonetti wurden die Knie weich und er hätte sich gerne einen Augenblick hingesetzt.
„Ganz recht, Mister Bonetti. Sie haben diesen Mann hierher befördert und jetzt müssen Sie sich auch um ihn kümmern. Mein Name ist August Pfützenreuter, ich bin der Assistent von Mister Zabelmann. Meine Aufgabe ist hiermit erfüllt und ich darf mich den Herren mit Ihrer Erlaubnis empfehlen.“ Der Mann lüpfte kurz seinen Hut und spazierte zur Tür hinaus.
„Grüß Gott“, sagte Kafka schüchtern und lächelte Bonetti zaghaft an.
Fortsetzung folgt.
Chuck Berry – Nadine. https://www.youtube.com/watch?v=Cm8ktxzaumg

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