Freitag, 26. Dezember 2014
Die Strafe, Kapitel 2
K. war per Mobilfunk verständigt worden, dass am nächsten Sonntag eine kleine Untersuchung in seiner Sache stattfinden würde. Er wunderte sich, woher die Behörden seine Handy-Nummer wussten. Schließlich benutzte er ein nicht registriertes Gerät mit Prepaid-Karte. Man teilte ihm mit, die Untersuchungen nun in rascher Folge voranzutreiben, um seine tatsächliche Belastbarkeit zu prüfen. Es wurden ihm eine Straße und eine Hausnummer genannt, irgendwo in einem Vorort, den K. nie besucht hatte. Ein genauer Zeitpunkt wurde ihm nicht genannt, sei es zur Prüfung seines Arbeitseifers und der morgendlichen Spannkraft, sei es aus Nachsicht gegenüber seiner offensichtlichen und den Behörden natürlich nun bestens bekannten Langschläferei. Jedenfalls hatte man ihm keinen exakten Termin gegeben. Er konnte früh erscheinen und alle durch die Zeitigkeit seines Eintreffens beschämen oder er konnte spät kommen, um den Behörden seine persönlichen Vorstellungen eines angemessenen Arbeitsbeginns zu demonstrieren. Und um Arbeit musste es wohl gehen. K. konnte sich nicht vorstellen, dass nur gesprochen werden sollte. Immerhin hatte er sich aber auf das Sprechen vorbereitet, falls es dazu kommen sollte. Er hatte einige Begründungen für seine Lebensführung vorbereitet und einstudiert.
K. stand gerade am Tresen seiner Stammkneipe und hörte stumm die telefonischen Anweisungen der Behörde. Grußlos beendete er das Gespräch. „Na, Ärger?“ grinste es aus den Reihen seiner Trinkgenossen. „Nein, nein“, sagte K. und nahm einen tiefen Zug aus seinem Weizenbierglas. In seiner Kneipe sollte niemand von der Verhaftung erfahren. Hier war der Freiraum, den er brauchte, während er inzwischen viele einsame Stunden mit Gedanken über die Forderungen der Behörde verbrachte. Was konnte man von ihm verlangen? Welche Fähigkeiten hatte er denn eigentlich? Waren Berufserfahrungen überhaupt vorhanden? Die Möglichkeiten flimmerten ihm nur so vor den Augen. Was wäre, wenn sie ihn im Service beschäftigen würden, im direkten Kontakt zu Menschen? Der Kontakt mit Menschen gehörte zu seinen Schwachpunkten, wie er leise lächelnd feststellte. Oder auf einer Baustelle, in einem Handwerksbetrieb? Das wäre für K., als ob er in den Krieg zöge. Er würde auf den Schlachtfeldern der Altbausanierung jämmerlich verrecken, soviel war gewiss. Gerüstbau etwa ist für einen motorisch unbegabten Menschen wie Stalingrad: Je länger man dabei ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit draufzugehen. Das ist die Mathematik der Verlierer.
Der Wirt, ein mächtiges Wesen mit blonden Geheimratsecken und einem Handtuch auf der Schulter, taxierte K. mit herab gezogenen Brauen. Hatte er etwas von seinem Gespräch über Arbeit gehört? Witterte er die Möglichkeit, von einem säumigen und doch trinkfreudigen Kunden fällige Gelder einzutreiben? Oder fürchtete er, ihn an die Welt der Arbeit, des Fleißes und der Strebsamkeit zu verlieren? Unentschlossen wienerte er ein Schnapsglas und stellte es ins Regal. K. musste vorsichtig sein, er durfte sich nicht verdächtig machen. Wenn er in seinem Trinken nachlassen würde, war erst recht alles verloren. Wenn er früher ging oder nicht mehr regelmäßig kam, könnten seine Kameraden Anstoß daran nehmen. Es wird immer über die Menschen schlecht gesprochen, die gerade nicht anwesend sind. Daher war es ihm unmöglich, den Stammplatz am Tresen zu gefährden, den er doch gerade erst unter solchen Mühen und unter Opferung seiner Leber nebst seinen letzten Ersparnissen errungen hatte. Nein, seinen Stammplatz in Gefahr zu bringen hieß, alles in Gefahr zu bringen. Eine weitere Veränderung der Verhältnisse konnte K. nicht zulassen. Und so war er in dieser Samstagnacht einer der letzten Gäste und hatte eine niedrige zweistellige Anzahl von Weizenbieren entschlossen, fast grimmig verzehrt.
Am nächsten Morgen war er zunächst verwirrt. Er hatte von rauschenden Wasserfällen geträumt, die sich in unendliche Tiefen verloren. Nachdem er von der Toilette zurück war, wanderte K. ein wenig durch sein Zimmer, um langsam wach zu werden. Als er aus dem Fenster blickte, sah er wieder die alte Frau, die es sich augenscheinlich gerade bequem auf ihrem Kissen machte und nach einem majestätischen Rundblick durch den Hinterhof K.s Fenster zu betrachten begann. ‚Was für einen winzigen Ausschnitt sie sich gewählt hat’, dachte K., als er sich anzog. Es war bereits elf Uhr und er beschloss, ohne Frühstück und weitere Umstände die Wohnung zu verlassen. Er hatte zwar keine genaue Uhrzeit für die angeordnete Untersuchung erhalten, wollte aber auch nicht erst am Nachmittag erscheinen, da in jener Gegend die Sonne früh zu sinken pflegte. Er zog seine besten Hosen, ein sauberes Hemd und ein Jackett an. Wäre K. je zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen worden – so hätte er ausgesehen. Auch wenn ein Außenstehender seine Erscheinung dennoch weiterhin als ärmlich bezeichnet hätte.
Gefasst trat K. aus dem Zimmer. Vor ihm standen, so unmittelbar wie aus dem Boden gewachsen, die beiden Studenten der Betriebswirtschaftslehre. Beide mit Tennisschläger, Handtuch und lachendem Gesicht, eine sonntägliche Selbstzufriedenheit, die K. geradezu körperlich anekelte. Vor dem Haus atmete er tief durch. Erklärungen zu seiner vergleichsweise opulenten Bekleidung hatte er nicht gegeben. Es galt, Eile und Wichtigkeit zu demonstrieren und so war er energisch zur Wohnungstür vorgedrungen, um sie mit einem Ruck zu öffnen und in einer einzigen flüssigen Bewegung wieder zu schließen. Vor dem Haus zeigten sich erste Anzeichen von Wintersonne am staubgrauen Himmel. K. war noch unschlüssig, ob er zu der angegebenen Adresse mit der Straßenbahn fahren oder zu Fuß gehen sollte. Auf der anderen Straßenseite sah er Hauser und Klopstock, zwei Mitinsassen seiner Stammkneipe, die ihm zuwinkten und dabei unausgesetzt lächelten. Oder grinsten sie? Aber K. blieb keine Zeit für Gedanken oder gar für einen kurzen Plausch mit den Herren. Er eilte die Gasse zur Hauptstraße hinunter, auf dem Gehsteig nur einige wenige Männer mit Hunden.
Wenn den Informationen der örtlichen Nahverkehrsbetriebe zu trauen war, musste K. noch zwanzig Minuten auf die nächste Straßenbahn warten. Also beschloss er, den Weg in die Vorstadt zu Fuß auf sich zu nehmen, dabei aber durch zügiges Tempo Zeit gegenüber der Straßenbahnfahrt zu gewinnen, um so die Behörden durch eigenen guten Willen zu Großherzigkeit und Nachsicht in seiner Sache zu bewegen. Es war doch ein ausgezeichneter und zudem sicherer Weg, die Behörde günstig zu stimmen und ihm gewogen zu machen, wenn er nur vor zwölf Uhr, vor dem Mittagsschlag, am geforderten Ort erscheinen würde. Und so flog K. durch die Gassen, ohne die Farben der Stadt oder der Ampeln auch nur im Geringsten wahrzunehmen. Da es Sonntag war, klebten in allen Fenstern lästige Gaffer wie Tauben in einem Verschlag. Ihr unaufhörliches Flüstern schwoll zu einem Summen an, als K. vorbei rannte. Was machte die Menge so sicher? Sah man ihm seine Faulheit wie einen Aussatz an? Konnte man seinem Gang anmerken, dass er nicht dazu gehörte, dass er keinen Beitrag zur allgemeinen wirtschaftlichen Tätigkeit leistete? Immerhin hatte sich K. am vorigen Tag gebadet und rasiert.
Endlich kam er in die Gasse, die ihm genannt worden war. Er war verwundert und fast ein wenig erleichtert, sie so verwahrlost vorzufinden. Auf dem Gehsteig spielten Kinder, aus den Kellern heraus wurden Gemüse, Tabak und Wein verkauft. Es herrschte der fröhliche Lärm von Menschen, die von der Einteilung des Tages und der Woche nichts wissen. Aus offenen Fenstern quoll der Lärm anatolischer Großfamilien. Radios krächzten, Fernseher plärrten, Säuglinge schrien. K. war sicher, hier falsch zu sein. Und dennoch fand er das Haus mit der angegebenen Nummer. Es war ein fünfstöckiger Altbau mit grauer verwitterter Fassade. Im Hausflur stillte eine junge Mutter ihr Kind. K. wagte nicht, sie nach der genauen Adresse der Behörde zu fragen, und ging in den ersten Treppenaufgang. Wenn die Behörde von seiner Schuld angezogen würde, so musste jener Aufgang der richtige sein, den K. zufällig wählte. Und es entsprach seiner Stimmung, sich einfach durch die Stockwerke treiben zu lassen. Irgendwo würde die Behörde schon sein. Schließlich wollte die Behörde an diesem Ort zu ihm sprechen. Er war hier, also würde sich auch die Behörde vor ihm enthüllen, die Anklage sich offenbaren. Möglicherweise konnte man die ganzen seltsamen Umstände seiner Vorladung einem angestrebten Überraschungseffekt zurechnen, den die Behörde gegenüber K. zu erzielen hoffte, indem sie an einem völlig unangemessenen, ja unmöglichen Ort auf ihn zu warten geruhte.
Er war niemals in einen Kampf verwickelt worden. Er hatte noch nie etwas gewonnen. Und jetzt stand er plötzlich im Kampf mit einer übermächtigen Behörde, die mit ihm zu spielen schien. Nirgendwo war ein Hinweis auf die Amtsräume zu finden, trotzig stieg er die Stufen des schmucklosen Treppenhauses empor. Gelegentlich lagen Junkies mit halb geschlossenen Augen auf den Stiegen und K. musste vorsichtig über ihre Leiber klettern. Im letzten, fünften Geschoß sah er eine halb geöffnete Wohnungstür. Als er näher trat, erblickte er eine junge schwarzhaarige Frau in einem Schürzenkleid, die ruhig Unterwäsche bügelte. Ohne nachzudenken, trat er ein. Die Frau schaute von ihrer Arbeit auf und blickte K. ohne Verwunderung in die Augen. Nun nahm K. von der Tür, die vom Vorzimmer wohl in die weitere Wohnung führte, undeutliches Stimmengemurmel wahr. Neugierig trat er einen Schritt vor und im gleichen Augenblick wurde die Tür von innen aufgerissen und ein unerhörter Lärm strömte heraus. Hinter der unscheinbaren Tür verbarg sich ein riesiger Versammlungssaal, der von einer zunächst unübersehbaren Menschenmenge bis auf den letzten Platz gefüllt war.
Alle Gesichter im Saal waren nun auf K. gerichtet. Auch der Türöffner winkte ihn lächelnd herbei. Also trat K. in den Saal. Nachdem er eingetreten war, erkannte er, dass nicht nur der ganze Raum mit Menschen gefüllt war, auch eine Galerie über den Köpfen der Menge war dicht gefüllt. Es bildete sich eine schmale Gasse, durch die K. nach vorne ans Podium lief. Dort saß, an einem einfachen Holztisch, ein dicker alter Mann in einem zementgrauen Anzug, der scheinbar über seinen Schriften eingeschlafen war. K. durchschritt tapfer die beidseitige Menschenwand und gelangte bald ans Podium. Unter dem Gejohle der Menge erklomm er die Bühne und stellte sich vor dem Tisch des Herren auf, der offensichtlich der Untersuchungsbeamte war. K. blickte zugleich den Beamten erwartungsvoll an und in den Saal, aus dem Papierkugeln und selten auch Bierflaschen in seine Richtung flogen. Nach einer Weile beschloss er, den Beamten selbst anzusprechen. „Ich soll mich hier zu einer Untersuchung melden“, rief er ihm durch den allgemeinen Lärm zu. Der alte Mann zeigte keine Reaktion. K. wiederholte seine Frage lauter. Jetzt regte sich der Greis und zeigte stumm auf einen Bediensteten, der am Rande des Podiums stand. Er hatte eine Art schwarzen Turnanzug an, war spindeldürr und hielt einen Besen in seinen Händen.
K. ging zu ihm hinüber und nahm den Besen. Zum ersten Mal brandete Beifall in der Menge auf. Er stieg mit dem Besen vom Podium hinab und begann sogleich, den Boden zwischen den versammelten Menschen zu fegen. Die Menge war weiter in reger Zwiesprache. K. fegte, doch erkannte er die Sinnlosigkeit seines Handelns, denn die wogende Menge produzierte fortwährend neuen Unrat und überdies fehlten ihm jegliche Behältnisse für den zusammengetragenen Abfall. Und so mühte er sich einige Zeit, begleitet vom höhnischen Gejohle der Masse auf der Galerie. Wenn er vom Boden hochblickte, sah er in die sarkastisch grinsenden Bürgergesichter. Es schien die ganze Versammlung noch auf den eigentlichen Höhepunkt zu warten – oder waren sie einzig zur Belustigung über K.s Schicksal hier hergekommen? ‚Ich, der ich nie gearbeitet hatte, muss nun vor tausend Richtern eine vollkommen zwecklose Arbeit verrichten. Ist dies eine neue Form des Theaters? Dann will ich einstweilen ein williger Schauspieler sein‘, dachte K.
Der Ermittlungsbeamte, inzwischen gelöst aus einer heiteren Besprechung mit Untergebenen, in der er pantomimisch K.s Arbeitsstil nachahmte, rief K. zu: „Schneller, schneller!“. „Wenn’s der Arbeitsfindung dient“, rief K. zurück und ein Raunen ging durch den Saal. K. fegte weiter vor sich hin, aber die Füße traten nun widerstandslos zur Seite. K. fegte den nicht endenden wollenden Müll der kauenden, trinkenden und plärrenden Menge in die vier Ecken des Saals. Auf der Galerie herrschte eine widerliche Freude über seine Tätigkeit, wie er da im Jackett und weißem Hemd einen sich ständig neu verschmutzenden Boden reinigte. Die Menge erfand erniedrigende Sprechchöre, um seine Arbeit zu vernichten. Schließlich warf K. den Besen in die Menge. Augenblicklich herrschte Stille. „Ihr seid ja alle offenbar Beamte dieser ehrenwerten Behörde. Und ihr schaut alle gerne anderen bei der Arbeit zu. Ich danke für die Untersuchung“, rief er gegen das Podium. Ohne eine Antwort abzuwarten, schritt er durch die Versammlung zur Tür. Niemand hielt ihn auf.
Hinter ihm erhob sich der Lärm der wieder lebendig gewordenen Versammlung, welche die Vorfälle wahrscheinlich nach Art von Studierenden zu besprechen begann.
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