Freitag, 26. Dezember 2014

Die Strafe, Kapitel 4

In der Nacht hatte K. einen Traum: Er war Schlangenbeschwörer in einem Zirkus und wartete jeden Abend ängstlich auf die Vorstellung. Als er schließlich in die Manege trat, nach mehreren – erst freundlichen, dann mahnenden – Ankündigungen des Zirkusdirektors, die jedes Mal von Orchestermusik begleitet waren, hielt er einen Schlangenkorb und eine Flöte in seinen zitternden Händen. Im Korb war aber nur eine winzige, kaum fingerlange Schlange, die zudem – unter dem anschwellenden Gelächter des Publikums – keinerlei Anzeichen machte, sich zu regen oder gar aufzurichten.
Er ging früh in seine Stammkneipe und ließ sich den ganzen Nachmittag nichts anmerken. Ruhig trank er die Biere, die von den Kellnern herbei getragen wurden. Ging ein Bier zur Neige, stand bald ein neues Glas vor ihm, ohne dass es eines Blickes oder gar eines Wortes zwischen ihm und den Gehilfen des Wirts bedurfte. Oft hatte er solche Nachmittage genutzt, um ein wenig Gitarre zu spielen und kleine Lieder zu erfinden. Doch von der Musik musste er nun Abstand wahren, um vor den Behörden nicht auch noch in Kunstverdacht zu geraten.
K. dachte über seinen Prozess nach. Ein solcher Prozess konnte seiner Natur nach eigentlich niemals enden. Nur der Tod des Angeklagten konnte den Prozess abschließen. So lange K. noch lebte, dauerte der Prozess zweifellos fort. Es konnte also eigentlich nicht um das Gewinnen dieses Prozesses gehen, sondern nur um ein Verzögern, ein Verschleppen des Vorgangs. K. musste Zeit gewinnen, auch um sich in die Abläufe der geheimnisvollen Behörde hineinzufinden, die ja offenbar mit der gewöhnlichen Gerichtsbarkeit und den polizeilichen Ermittlungsbehörden in keinerlei Verbindung stand. Und was warf man ihm eigentlich genau vor? Gut, er ging keiner Erwerbstätigkeit nach. Aber er verlangte auch nicht viel. In seiner Faulheit war er unauffällig, fast unsichtbar. Ein Chamäleon der Untätigkeit, ein liebenswertes moosbewachsenes Faultier. Aber offenbar hatte er damit die Behörden herausgefordert, deren Geduld in seinem Falle an ein Ende gekommen war. Ihm blieb die Schuld dennoch unbegreiflich.
Wie er so vor sich hin überlegte und gedankenverloren an seinem Weizenbierglas sog, setzten sich drei Zechkumpanen an seinen Tisch: der steife, die Hände schwingende Warsteiner, der blonde Bullrich mit den tiefliegenden Augen und Traminer mit dem unausstehlichen, durch eine chronische Muskelzerrung bewirkten Lächeln. Ein Kellner flog mit ausdruckslosem Gesicht vorbei und platzierte drei Biere vor den Herren. Ahnungslos lächelnd prostete K. seinen Wirtshauskameraden zu. Im Hintergrund flimmerte ein Champions League-Spiel über den Bildschirm, immer wieder heulte die Meute an der Theke auf, wenn sich vermeintlich Entscheidendes tat. „Du hast Ärger mit dem Arbeitsamt“, begann der blonde Bullrich, der keine Frage, sondern eine Feststellung formulierte. Traminers ewiges Lächeln begann an den Rändern zu zittern, zu flattern. „Und ich habe gehört, du hättest gearbeitet“, rief Warsteiner vorwurfsvoll und warf die geöffneten Hände auf den Tisch, als wolle er K. anflehen, diesen ungeheuerlichen Vorwurf umgehend zu widerlegen.
K. nahm mit geschlossenen Augen einen langen Zug aus seinem Glas. Dann blickte er konzentriert in die Gesichter der anwesenden Herren, alle drei blickten ihn erwartungsvoll an. „Ja, ich habe gearbeitet“. Die Köpfe seiner Zuhörer zuckten unwillkürlich zurück, Traminer griff nervös zu seinem Glas und trank mit aufgerissenen Augen. Und ohne die näheren Umstände seiner Vorladung zur sonntäglichen Besenmesse zu erläutern, fuhr er fort: „Jemand muss mich verraten haben.“ An den Nachbartischen wurde es still, einige neue Zuhörer standen von ihren Barhockern am Tresen auf und kamen näher. „Und nun hat sich das unbestechliche Auge der Behörde auf mich gerichtet“. Das waren große Worte und die Zuhörer benötigten einen großen Schluck Bier, um alles Neue verarbeiten zu können. „Und du hast jetzt einen Arbeitsvermittler engagiert, der dir Arbeit verschaffen soll“, schaltete Warsteiner sich wieder in die Erörterung ein. K. nickte wortlos und trank wieder. Jetzt, wo alle Blicke auf ihn gerichtet waren, glaubte er, noch viel mehr als an anderen Tagen trinken zu müssen, um sich der Kameradschaft und Loyalität seiner Trinkgenossen versichern zu können.
Vorwurfsvoll hob er sein leeres Glas einem vorübereilenden Schankgehilfen entgegen, der – durch den unerkannt gebliebenen Durst dieses Gastes verärgert, denn es war doch Teil seiner Kunst, immer rechtzeitig ein neues Glas zu bringen, noch bevor im Gast auch nur die ersten zarten Andeutungen eines Wunsches nach neuer Nahrung sich zeigten – nun ein neues Glas sogleich vor K. so auf den Tisch knallte, dass der Aschenbecher in eine eigentümliche kreisende Bewegung geriet, um alsbald scheppernd stehen zu bleiben. „Ja, ich habe einen Vermittler. Aber ich werde ihm kündigen“, sagte K. und wie zur Bestätigung fügte er hinzu: „Es hat doch alles keinen Sinn. Ich weiß ja gar nicht, für was ich überhaupt taugen soll.“ Er hob das Glas, um anzustoßen. Die drei Herren begannen zu lachen. „Also arbeiten willst du“, wagte sich jetzt selbst der zuckend lächelnde Traminer hervor. „Hast du es dir denn gut überlegt“, fragte er ruhig. K. lachte: „Ja glaubt ihr denn, ich wollte irgendetwas machen“, fragte er zurück. „Ihr kennt mich doch als ruhigen und fleißigen Trinker. Nichts anderes möchte ich sein. Mag der Prozess auch meine Kräfte in Anspruch nehmen. Ich werde hier in unserer Kneipe dennoch nicht nachlassen. Ob Karneval oder Geburtstag – ihr werdet mich immer hier sehen. Den Prozess wehre ich mit einer Hand ab, während ich mit der anderen Hand trinke. Glaubt mir!“
Die drei Herren schauten ihn an und auch alle Umstehenden blickten ihn abwartend an. In der normalen Welt beobachtest du die Schauspieler auf der Theaterbühne, dachte K. Hier beobachten die Schauspieler dich. Es konnte hier in seiner Stammkneipe nur schwieriger werden. Er war unter Verdacht. Und der Verdacht einer Schuld – freilich war hier die Schuld eine andere als vor der Behörde – würde ihm Kamerad um Kamerad entziehen, die sich von ihm entfernen mussten, um nicht auch hineingezogen zu werden in die Ermittlungen der Behörde. Er würde bald einsam am Ende des Tresens sitzen müssen, neben den Salzstreuern und leeren Brotkörbchen. In einer Ecke, von der aus der Fernseher nicht zu sehen sein würde. K. trank nun wieder, wie zum Trotz, sein Glas aus und winkte mit schiefem Kopf den Kellner heran. Nur half das Trinken in dieser Lage freilich gar nichts. Und während K. sich trinkend den Kopf über seine Lage zerbrach, konnten die anderen mit einer geradezu unschuldigen Freude seinen Fall erörtern. Sie scherzten und klopften sich auf die Schultern, als säße der Gegenstand ihrer kindischen Aufgeregtheiten nicht mitten unter ihnen.

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