Freitag, 17. November 2023

Wibke

 

„Der Sog der Verkommenheit, die Dämonen der Hässlichkeit und der Schlamperei hatten nie aufgehört, sie zu peinigen, und die Sirenen der Langeweile lockten sie oft genug an den Rand jenes Abgrunds, in dem tief unten die Verrücktheit lauerte.“ (Martin Mosebach: Eine lange Nacht)

Disclaimer: Der folgende Text kann Nanopartikel von Humor enthalten und ist nicht autobiographisch. Noch nicht.

Ich habe Wibke Zinkapfel nie vergessen, obwohl ich es viele Jahre versucht habe. Wir haben uns im Internet kennengelernt. Sie hatte eine Nahaufnahme ihres Gesichts in ihrem Profil. Wibke war bildhübsch. Als wir uns in einem Café trafen, sah ich das mitleidige Schmunzeln der Kellnerin – oder war es ein höhnisches Grinsen? Sie hatte solche Situationen sicher schon häufiger erlebt als ich. Was auf dem Foto nicht zu sehen war: die 110 Kilo rund um das Gesicht. Und dann diese Ohren. Sie lagen zwar flach an, reichten aber von den Augenbrauen bis zum Mund. Als sie nach dem zweiten Stück Torte selig lächelte, sah sie aus wie eine Buddhastatue.

Dummerweise hatte ich im Internet mit meinen handwerklichen Fähigkeiten geprahlt. Als ich sie das erste Mal besuchte, haben wir zusammen ihre Küche tapeziert. Zwei Tage später habe ich ihr geholfen, ihren Flohmarktstand mit den selbstgehäkelten Handy-Hüllen aufzubauen. Während sie sich mit einer Freundin unterhielt, die vorbeigekommen war, musste ich mich mit den Kunden herumschlagen. Sie hatte schnell begriffen, dass ich ein gutmütiger Trottel bin, der ihr keine Bitte abschlagen konnte, die sie mit treuen Dackelaugen und beschwörendem Tonfall vortrug.

Natürlich habe ich ihr auch Geld geliehen. Geld, das ich nie wieder sah. Aber das Schlimmste war unser erster und einziger Urlaub. Wibke wollte unbedingt in die Uckermark. Am Lübbesee hat sie einen Bikini getragen. Das fand ich mutig. Die Radtour bei strömendem Regen soll auch nicht unerwähnt bleiben. Seit ich vor vierzig Jahren meinen Führerschein gemacht habe, habe ich nicht mehr auf einem Fahrrad gesessen. Die geschwätzige Pensionswirtin war eine Zumutung, das Graubrot zum Frühstück auch. Und warum wollte Wibke auf dem Rückweg unbedingt dieses blöde Schiffshebewerk in Niederfinow sehen?

Ihre Leidenschaft waren diese kleinen Figuren in den Überraschungseiern. In Setzkästen hingen sie an allen Wänden ihrer Wohnung. Sie hat die Eier palettenweise gekauft. Beim Tod von Jopi Heesters hat sie geweint. Erst in diesem Augenblick erkannte ich, wie stark sie geschminkt war. Man hatte den Eindruck, ihr ganzes Gesicht sei zerlaufen. Ich habe diese Frau nie verstanden. Eigentlich habe ich sie auch nie geliebt. Aber ich bin ein freundlicher Mensch. Als sie nach Kassel umgezogen ist, habe ich ihr sogar beim Umzug geholfen. Zusammen mit ihrem neuen Freund habe ich die Waschmaschine in den vierten Stock getragen. Irgendwann haben wir schließlich alle mal den ersten Bandscheibenvorfall.

Frank Zappa - Lucille Has Messed My Mind Up (Visualizer) - YouTube

 

 

3 Kommentare:

  1. Sehr schöne Geschichte!
    Beim Lesen kam mir der Gedanke, dass Dir die Erzählungen von Frank Jakubzik auch gefallen könnten. Die Geschichten sind den Deinen ab und an recht ähnlich (z.B. jemand tauscht sein Leben mit einem anderen), auch wenn der Stil ganz anders ist:
    https://www.suhrkamp.de/buch/frank-jakubzik-gefuehlte-zuversicht-t-9783518127582

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    1. Danke für den Tipp. Werde ich mal näher inspizieren.

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    2. ... und für 98 Cent plus Versand bei Medimops bestellt. Wehe, es gefällt mir nicht ;o)

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