„Der Sog der Verkommenheit, die Dämonen der
Hässlichkeit und der Schlamperei hatten nie aufgehört, sie zu peinigen, und die
Sirenen der Langeweile lockten sie oft genug an den Rand jenes Abgrunds, in dem
tief unten die Verrücktheit lauerte.“ (Martin Mosebach: Eine lange Nacht)
Disclaimer: Der folgende Text kann Nanopartikel von
Humor enthalten und ist nicht autobiographisch. Noch nicht.
Ich
habe Wibke Zinkapfel nie vergessen, obwohl ich es viele Jahre versucht habe.
Wir haben uns im Internet kennengelernt. Sie hatte eine Nahaufnahme ihres
Gesichts in ihrem Profil. Wibke war bildhübsch. Als wir uns in einem Café
trafen, sah ich das mitleidige Schmunzeln der Kellnerin – oder war es ein
höhnisches Grinsen? Sie hatte solche Situationen sicher schon häufiger erlebt
als ich. Was auf dem Foto nicht zu sehen war: die 110 Kilo rund um das Gesicht.
Und dann diese Ohren. Sie lagen zwar flach an, reichten aber von den Augenbrauen
bis zum Mund. Als sie nach dem zweiten Stück Torte selig lächelte, sah sie aus
wie eine Buddhastatue.
Dummerweise
hatte ich im Internet mit meinen handwerklichen Fähigkeiten geprahlt. Als ich
sie das erste Mal besuchte, haben wir zusammen ihre Küche tapeziert. Zwei Tage
später habe ich ihr geholfen, ihren Flohmarktstand mit den selbstgehäkelten
Handy-Hüllen aufzubauen. Während sie sich mit einer Freundin unterhielt, die
vorbeigekommen war, musste ich mich mit den Kunden herumschlagen. Sie hatte
schnell begriffen, dass ich ein gutmütiger Trottel bin, der ihr keine Bitte
abschlagen konnte, die sie mit treuen Dackelaugen und beschwörendem Tonfall
vortrug.
Natürlich
habe ich ihr auch Geld geliehen. Geld, das ich nie wieder sah. Aber das
Schlimmste war unser erster und einziger Urlaub. Wibke wollte unbedingt in die
Uckermark. Am Lübbesee hat sie einen Bikini getragen. Das fand ich mutig. Die Radtour
bei strömendem Regen soll auch nicht unerwähnt bleiben. Seit ich vor vierzig
Jahren meinen Führerschein gemacht habe, habe ich nicht mehr auf einem Fahrrad
gesessen. Die geschwätzige Pensionswirtin war eine Zumutung, das Graubrot zum
Frühstück auch. Und warum wollte Wibke auf dem Rückweg unbedingt dieses blöde
Schiffshebewerk in Niederfinow sehen?
Ihre
Leidenschaft waren diese kleinen Figuren in den Überraschungseiern. In
Setzkästen hingen sie an allen Wänden ihrer Wohnung. Sie hat die Eier
palettenweise gekauft. Beim Tod von Jopi Heesters hat sie geweint. Erst in
diesem Augenblick erkannte ich, wie stark sie geschminkt war. Man hatte den
Eindruck, ihr ganzes Gesicht sei zerlaufen. Ich habe diese Frau nie verstanden.
Eigentlich habe ich sie auch nie geliebt. Aber ich bin ein freundlicher Mensch.
Als sie nach Kassel umgezogen ist, habe ich ihr sogar beim Umzug geholfen.
Zusammen mit ihrem neuen Freund habe ich die Waschmaschine in den vierten Stock
getragen. Irgendwann haben wir schließlich alle mal den ersten Bandscheibenvorfall.
Frank Zappa - Lucille Has
Messed My Mind Up (Visualizer) - YouTube
Sehr schöne Geschichte!
AntwortenLöschenBeim Lesen kam mir der Gedanke, dass Dir die Erzählungen von Frank Jakubzik auch gefallen könnten. Die Geschichten sind den Deinen ab und an recht ähnlich (z.B. jemand tauscht sein Leben mit einem anderen), auch wenn der Stil ganz anders ist:
https://www.suhrkamp.de/buch/frank-jakubzik-gefuehlte-zuversicht-t-9783518127582
Danke für den Tipp. Werde ich mal näher inspizieren.
Löschen... und für 98 Cent plus Versand bei Medimops bestellt. Wehe, es gefällt mir nicht ;o)
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