Es gibt
ein untrügliches Zeichen für den Umstand des Altgewordenseins (neben
umständlichen Formulierungen). Es ist der Satz: „Man ist so alt, wie man sich
fühlt“. Das gefühlte Alter. Ein Thema für Kreuzfahrten und Skatabende. Aber jetzt
kann ich mitreden. Am Montag um elf Uhr vormittags bin ich schlagartig von 54
auf 80 Jahre gealtert. Buchstäblich.
Und
das kam so. Montag, 2. August. Ich hatte nach dem Frühstück einen längeren Text
geschrieben, der in den nächsten Tagen folgt, als ich vom Schreibtisch aufstand.
Ich wollte auf den nur wenige Schritte entfernten Balkon gehen, um einen
wohlgefälligen Blick auf die Welt im Allgemeinen und auf den Mähroboter im Besonderen
zu werfen, der um Punkt elf seine Ladestation verlässt, um sein Tagwerk zu
verrichten und mich an „Lautlos im Weltraum“ zu erinnern. Als ich auf dem
Rückweg die zwei Stufen vom Balkon ins Wohnzimmer, das zugleich mein
Arbeitszimmer ist, nehmen möchte, tut es einen Schlag in meinem rechten Knie.
Ein lautes Knacken, als würde man einen Ast durchbrechen. Danach der Schmerz.
Zum Glück kann ich mich am Griff der Balkontür festhalten. Mühsam schleppe ich
mich zum Sofa hinüber und lege mich hin.
Ich
kann nicht mehr laufen. Ich bin hilflos. Ich bin allein. Ist etwas gebrochen?
Bänderriss? Mein altes Leben ist vorbei. Auf dem Sofa gestrandet. Ohne etwas zu
essen und zu trinken, ohne Hoffnung. Ich starre ein oder zwei Stunden an die
Decke. Dann betaste ich mein Knie. Wenn etwas gebrochen oder gerissen wäre,
würde es weh tun, wenn ich drücke. Aber da ist nichts. Also ein Gichtanfall.
Ich stehe auf. Es tut weh, aber ich falle nicht um. Wenn ich mich gebückt und
in Tippelschritten bewege, mich am Wohnzimmertisch und dem Sofa abstütze, kann ich
die zwei Meter zum Schreibtisch schaffen. Nach einer Minute bin ich dort. Ich
rufe meinen Vater an. Er hat Zeit, er muss heute nicht arbeiten. Und morgen
auch nicht.
Eine
halbe Stunde später ist er da. Zum Glück hat er einen Schlüssel, denn die Haustür
ist eine Weltreise entfernt. Er hat zwei Flaschen Wasser und zwei Käsestullen
dabei. Ich liege wieder auf dem Sofa. Er bringt mir auch das Buch, das ich
gerade lese. Es liegt im Schlafzimmer, eine Etage unter mir. Da ich keine
Treppen steigen kann, ist dieser Ort für mich unerreichbar geworden. Er bleibt
zwei Stunden bei mir und schläft auf dem Sessel ein. Ich schöpfe wieder
Hoffnung. Ein Gichtanfall geht vorbei. Es ist gut, wenn man Familie und Freunde
hat, die man zu Hilfe rufen kann. Am Abend schleppe mich wieder zum
Schreibtisch. Ich bin im Netz unterwegs und sehe auf dem Notebook ein paar
Filme. Ich habe es an diesem Tag auch drei Mal, sehr mühselig und auf meinen
Regenschirm als Krückstock gestützt, bis ins Badezimmer geschafft. Es ist fast
zehn Meter vom Sofa entfernt. Das ist mein Radius. Vom Sofa zum Schreibtisch
und bis ins Bad.
Am
nächsten Morgen kommt mein Vater wieder. Wasser und Käsestullen. Ich brauche
nicht mehr als diese zwei Brote am Tag. Der Appetit ist mir vergangen. Aber ich
mache Fortschritte. Das Humpeln schaffe ich in größeren Schritten. Mein Vater,
der alte Heimwerker, gibt mir eine Lektion in gefühltem Alter. Er ist 87 und
berichtet mir von dem Plan, in den Baumarkt zu fahren, um das Material für einen
Griff zu kaufen. Denn vom Wohnzimmer in den Flur sind es wieder zwei Stufen.
Auf meinem Weg zum Badezimmer sind sie die größte Prüfung. Heute kommt er
wieder vorbei, um den Griff für mich anzubringen. Er ist gefühlt jünger als
ich, das ist klar. Aber heute kann ich schon wieder besser laufen. Kaum
Schmerzen, ich gehe fast aufrecht – wenn auch am Stock. Ich bin zuversichtlich,
dass ich am Samstag nächster Woche meine Gäste zur Geburtstagsfeier in einem
Restaurant begrüßen kann.
Es ist
merkwürdig. Die Geschichte, die ich am Montag bei bester Gesundheit geschrieben
habe, und die Sie demnächst lesen können, nimmt die Stimmung dieser Tage
vorweg. Zwischen der letzten Zeile und meiner schlagartigen Vergreisung liegen
gerade einmal zwanzig Minuten. Zufall? Vorahnung? Mein gefühltes Alter ist
momentan 70. Es geht aufwärts. In sehr kleinen Schritten.
Edie Brickell & New
Bohemians - What I Am (Official Music Video) - YouTube
Der zweite Frühling kommt mit den dritten Zähnen.
AntwortenLöschenWalter Matthau
... also...🤔 BESSERE DICH 😉🙄😘 *umärmel*
PS
AntwortenLöschen... und hättest mal nicht so kräftig gepuuupst 💨💨💨 😂
Aua ! Aua ! Gute Besserung !
AntwortenLöschenÄhnliches hatte ich letztes Jahr.
Trage schweres Zeug, rutsche auf nassem Boden aus, werfe schweres Zeug nicht weg und fange mir deshalb im Fußgelenk volles Drehmoment ein.
Halber Aucherbacher mit halber Schraube und Bodenkontakt.
Ein Geräusch, als zöge man unter Wasser schnell einen sehr großen Reißverschluss auf.
Innerhalb von Sekunden kann die Welt eine andere sein.
Hier mein Trost: Nach einem Gichtanfall kann einige Zeit (sogar Monate bis Jahre) vergehen, bis der nächste Gichtanfall auftritt.
AntwortenLöschenEin Gichtanfall beginnt ohne Knacken. Warum sollen die weissen Blutkörperchen Krach machen, wenn sie die Harnsäurekristalle fressen wollen ?
AntwortenLöschenIch tippe auf Materialermüdung und Überlastung.
Danke! Der letzte Gichtanfall war 2017. Aktuell humpele ich schon wieder ohne Stock!
AntwortenLöschenGute Besserung!
AntwortenLöschenErinnert mich an meinen Bandscheibenvorfall vor zwei Jahren. Da habe ich locker ein paar Wochen herumgelegen. Man sieht die alten Leutchen mit ihren Rollatoren ab dann mit anderen Augen.
Danke. Es ist wie eine Zeitreise - in die Scheiße :o)
LöschenWieso knacken?
AntwortenLöschenInsider-Spruch unter Gicht-Kranken: "Lass knacken, Alter."
LöschenAdaption bzw. Vorsorge treffen -> einen Zweitkühlschrank neben dem Sofa und Getränke für die Not vorhalten.
AntwortenLöschenEine alte Idee, die ich seit Jahren verfolge. Minibars in jedem Raum ;o)
LöschenKannst Du von Deinen überbordenden Honoraren nicht eine junge Dame einstellen, die Dir die Getränke anreicht ?
LöschenNachtrag: Wir haben die Sache mit den Griffen an den Stufen vertagt. Aber eines Tages werde ich sie brauchen ...
AntwortenLöschen#barrierefrei
Gute Besserung! Griffe sind praktisch. Ich habe teilweise komplett abgegriffene Tapeten (da ist so ein Strukturzeug drin), weil ich mich im Falle eines Falles versuche da noch irgendwie festzukrallen bevor ich falle, sonst habe ich wo es geht Möbel, an denen ich mich hochziehen kann oder alles auf dem Boden. (Seit ich auch auf dem Boden schlafe lebe ich verletztungsfreier, ich kann mich ja, wenn ich wach werde erstmal fast gar nicht bewegen.) Schon praktisch, wenn man Griffe oder als Griffe nutzbares hat.
AntwortenLöschenDanke! Zum Glück gibt es in diesem Haus keine weiten offenen Flächen. Und die Möbel sind stabil, auch wichtig.
LöschenAutsch! Wünsche gute und vor allem schnelle Erholung!
AntwortenLöschenDanke! Es geht schon wieder besser. Aber Alkohol und Fleisch sind, mit Ausnahme meines Geburtstags nächste Woche, erstmal gestrichen. Der Berlin-Reise-Plan (gebt mir Bindestriche!) ist auch zurückgestellt.
LöschenÜbernimmt die GKV denn nicht die Kosten für einen Treppenlift? Kostet so viel wie ein gutes Carbon-Mountainbike.
AntwortenLöschenIch mußte von 10/2020 bis 5/2021 mit dem Joggen aussetzen, weil sich aus heiterem Himmel eine Tendiose am Traktus Illiotibialis, ein sogenanntes Läuferknie, entwickelte:
https://tinyurl.com/24ya8p4h
Ich wurde fett und depessiv.
Gestern Abend konnte ich die Treppe schon wieder benutzen. Es liegt an meinem Lebenswandel, da nutzt ein Treppenlifter nix. Die Gicht ist ein gnadenloser Zuchtmeister. Drei Tage Schmerzen - jetzt bin ich wieder brav.
Löschenich lief in den letzten 2 jahren zeitweise mit dem rollator in der wohnung, wg. gelenkschaden. und gegen gicht nehme ich täglich eine tablette, weil in unserer familie alle veränderte harnsäurewerte haben. ich kann dir tröstend sagen, mit etwa 50 jahren begann es, und ich weiß nun, ich kann mich nicht durchmogeln. es gibt dinge, die ziehen bei mir konsequenzen nach.
AntwortenLöschenjedenfalls wünsche ich dir einen schönen geburtstag und vielleicht einen guten arzt.
Danke! Einen guten Arzt habe ich, Allopurinol nehme ich auch. Aber ich habe es, v.a. während der EM, in Sachen Ernährung etwas schleifen lassen. Jetzt bin ich bei: Zero Wein, Zero Zucker und Zero Fleisch. Gestern Abend konnte ich schon wieder die Treppe benutzen und in meinem Bett schlafen.
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