Samstag, 7. August 2021

Das letzte Zimmer ist leer


„Gleich würde die Abspielnadel in meinem Geist die letzte innere Rille erreichen, um dann mit scheinbarer Bedeutung weiterzulaufen und dreiunddreißigmal in der Minute zu knacken. Schließlich würde jemand den Tonarm wegheben müssen, und Stille würde sich herabsenken.“ (Christopher Priest: Der weiße Raum)

Die zweite Hälfte seines Lebens war ein sanfter Abstieg. Kein Absturz, Stufe um Stufe nahm es ab, wurde weniger, verschwand in Zeitlupe. Als er fünfzig war, ließ sich seine Frau von ihm scheiden. Die Ehe war kinderlos geblieben. Mit fünfundfünfzig verlor er seinen Job in der Lohnbuchhaltung an ein Computerprogramm. Mit sechzig ging es ihm gesundheitlich so schlecht, dass er in den Vorruhestand versetzt wurde, um wenigstens die Arbeitslosenstatistik nicht weiter zu belasten. Einen Teil seiner Freunde hatte er verloren, als sie Familien gegründet hatten, einen anderen Teil durch Umzug oder zunehmende Gleichgültigkeit. Geblieben waren ihm das Ein-Zimmer-Appartement, in das er nach der Scheidung gezogen war, und sein alter Trinkbruder Michael, den er seit der Schulzeit kannte.

Es war ein bescheidenes Leben, aber es genügte ihm. So hätte alles ausklingen können, aber es kam alles anders. Sein Vermieter verkaufte die Wohnung und der neue Eigentümer meldete Eigenbedarf an. Es blieben ihm drei Monate, um sich in Köln eine neue Wohnung zu suchen. Dreizehnhundert Euro Frührente – da waren die Möglichkeiten begrenzt. Er schaffte es noch nicht einmal, zu einer Wohnungsbesichtigung eingeladen zu werden. Eines Abends, in einem Wirtshaus in Nippes, schilderte er Michael seine Probleme. Michael war eisern Junggeselle geblieben und arbeitete in der Stadtverwaltung. Er hatte von seinem Vater ein winziges Chalet in den Schweizer Alpen geerbt und schlug ihm vor, dort einzuziehen. Er müsse nur die Hütte in Ordnung halten und die Nebenkosten tragen. Das Geschäft war in wenigen Minuten besiegelt und sie stießen miteinander an.

In den nächsten Wochen verkaufte er seine Möbel und Geräte, den Fernseher, den Computer und die Waschmaschine. Er verschenkte Bücher und CDs, den Rest ließ er von der Müllabfuhr abholen. Am letzten Tag stand er mit einem gepackten Koffer in der leeren Wohnung, die er besenrein mitsamt den Schlüsseln dem neuen Eigentümer übergab. Er verbrachte noch eine Nacht in einer Pension und fuhr am nächsten Morgen über Basel und Zürich in den Kanton Graubünden. In seinem Koffer befanden sich nur Kleidungsstücke, Bettzeug, Zahnbürste und Kamm, ein Fotoalbum und einige Dokumente wie sein Abiturzeugnis und der Rentenbescheid. Es sollte ein echter Neuanfang werden.

Die Hütte stand einige hundert Meter vom Dorf Guarda im Unterengadin entfernt. Dort gab es einen Supermarkt und ein Gasthaus. Die Hütte war aus groben Balken gezimmert und nicht groß. Ein Bett, ein Tisch und zwei Stühle sowie eine Kochecke. Kein Internet, kein Fernsehen, kein Radio, ein Telefon. Aber Strom und fließend kaltes und warmes Wasser. Dusche und Toilette funktionierten. Er war zufrieden. Alles, was seinem Leben bisher Struktur gegeben hatte, war weg. Keine Frau, keine Arbeit, keine Freunde. Kein Internetlektüre am Morgen, kein Radiogedudel am Nachmittag, kein Fernsehprogramm am Abend. Selbst auf Kaffee und Bier wollte er verzichten.

Am nächsten Morgen ging er in den Dorfladen, um einzukaufen. In der Hütte gab es einen Kühlschrank, in dem er Butter, Wurst und Käse deponierte. Außerdem hatte er sich Schreibhefte gekauft. Ein paar Kugelschreiber hatte er aus seiner alten Wohnung mitgenommen. Er wollte schreiben. Schreibend zu sich selbst kommen. Das hatte er irgendwo mal gelesen. Die ganzen Ablenkungen aus dem Leben eliminieren. Alles, was Zeit und Energie kostet. Politische Debatten, die sich seit Jahrzehnten sinnlos im Kreis drehten. Belanglose Krimiserien und Spielfilme, Verbrauchermagazine und Talkshows. Die ewig gleichen Popschnulzen und Verkehrsmeldungen im Radio. Peinliche Online-Scharmützel auf irgendwelchen Plattformen.

Nach einem ausgiebigen Frühstück - Schinken und Bergkäse schmeckten an der frischen Luft auf knapp siebzehnhundert Metern unvergleichlich viel besser als in Köln - setzte er sich an den Tisch und fing an zu schreiben. Er hatte sich vorgenommen, seine Arbeit chronologisch aufzubauen. Seine Lebenserfahrungen sollten nach Jahren geordnet sein. Da seine Erinnerungen aus der Vorschulzeit nur aus kurzen, unzusammenhängenden Bildfetzen bestanden (ein toter Vogel am Straßenrand, ein Streit der Eltern oder der Blick aus dem Kindergartenfenster, als er wieder einmal, von der Gruppe wegen irgendeines Fehlverhaltens ausgeschlossen, alleine auf dem Flur stand), wollte er mit dem ersten Schuljahr beginnen. Er schrieb die Jahreszahl auf die erste Seite und überlegte. Was fiel ihm zu diesem Jahr ein? Er sah sich das Foto von seinem ersten Schultag im Album an. Er stand in kurzen roten Hosen und einem gelben Hemd vor einer Schiefertafel, auf der „Mein 1. Schultag“ stand. In den Armen hielt er eine riesige bunte Schultüte. Aber was hatte er in diesem Jahr erlebt?

Die ganze Grundschulzeit war ebenso ungeordnet wie die Vorschulzeit. Er hatte klare Erinnerungen an einen Campingurlaub in der Eifel. Die Familie hatte zwei Wochen in einem Zelt am Laacher See verbracht. Auf einem Gaskocher hatten sie Konserven warm gemacht. Eine Reise nach Holland, ans Meer. Die Windmühle aus Holz hatte jahrelang in ihrer Küche auf dem Fensterbrett gestanden. Seine Schulfreunde von damals. Er war der Einzige, der nach der Grundschule aufs Gymnasium gegangen war. Sie hatten sich bald danach aus den Augen verloren. Je länger er über seine Erinnerungen nachdachte, desto sinnloser erschien ihm sein Vorhaben. Warum sollte er all diese Dinge aufschreiben? Wer sollte es lesen? Für andere Menschen war es bedeutungslos, dass er mal im Handballverein gewesen war. Er konnte sich selbst an kein einziges Spiel erinnern.

Am Abend saß er vor der Hütte und blickte ins Tal hinab. Die Ruhe war unglaublich. So ein friedlicher, idyllischer Ort. Er lebte dort, wo andere Urlaub machten. Er war zufrieden. Er hatte den ganzen Ballast des alten Lebens abgeworfen. In den folgenden Wochen ging er oft im Wald spazieren. Erst nur wenige hundert Meter, aber die Strecke wurde immer länger. Er spürte, wie die Kraft in seinen Körper zurückkehrte. Er hatte den ganzen Tag Zeit. Zeit, um zu schreiben. Vielleicht sollte er Geschichten schreiben. Sich Figuren und Handlungen ausdenken. Er hatte hunderte Bücher gelesen. So schwer konnte es nicht sein. Er würde mit seiner neugewonnenen Energie neue Welten schaffen. Erst kurze Erzählungen, dann vielleicht einen ganzen Roman. Nach ein paar Jahren würde er in die Stadt zurückkehren und ein neues Leben als gefeierter Schriftsteller beginnen.

Aber die Schreibhefte blieben leer. Sein Leben war leer. Sein Kopf war leer. Nach der ersten Euphorie nach dem Umzug begriff er, dass nur diese Leere geblieben war. Ungeheuerlich groß für ihn, kläglich für den Rest der Welt. Es gab nichts, dass er schreiben konnte. Keine Erinnerung, die es wert gewesen wäre. Keine Idee für eine Geschichte, die ihn oder andere begeistern könnte. Er hatte das Grundgerüst seines Lebens im Kopf. Er wusste, welchem Abiturjahrgang er angehörte, wann er geheiratet hatte und wann er von seiner Frau geschieden wurde. Wann er als Lohnbuchhalter angefangen hatte und wann er entlassen wurde. Aber was war während seiner Ehe und seiner Arbeitszeit passiert? Belanglosigkeiten, kaum des Erinnerns wert. Je weiter er in sich hineinhörte, desto weniger Material fand er. Was sollte er sich selbst und seinen Lesern erzählen? Wo war der Ausgangspunkt einer tragfähigen Handlung?

Er blieb morgens immer länger im Bett liegen. Er wusch sich nicht mehr und wechselte seine Klamotten nur noch, wenn er ins Dorf ging. Niemand von den hundertsechzig Einwohnern Guardas kannte er, niemand grüßte ihn. Er wechselte nur wenige Worte mit der Kassiererin im Volg-Laden und mit der Kellnerin im Crusch Alba. Auch das neue Leben bot ihm kein Material. Hatte ihn am Anfang noch das Vogelgezwitscher am frühen Morgen erfreut, der Wind in den Bäumen oder der prasselnde Regen, war es jetzt die monotone Geräuschkulisse eines leeren Lebens. Am schlimmsten war es am Morgen, wenn er aufwachte und ein ganzer langer Tag ohne Aufgaben und Begegnungen wie ein leeres Blatt Papier vor ihm lag, und am Abend, wenn die Langeweile wie ein Stein auf ihm lastete. Sein altes Leben in Köln fehlte ihm, und er vermisste die Stimmen und Gesichter, die sein Leben geprägt hatten.

Er fing wieder an zu trinken. Schnaps. Besser als jeden Tag einen Rucksack voller Bierflaschen den Berg hinaufzutragen. Im Suff schrieb er gelegentlich ein paar Zeilen. Gekrakel, das er am nächsten Morgen schlechtgelaunt aus dem Heft riss und in den Mülleimer warf. So gingen die Monate dahin und als sein alter Freund Michael schließlich in seinem Sommerurlaub zu Besuch kam, fand er die Leiche des Mannes auf dem Boden der Hütte. Auf dem Tisch lagen ein leeres Heft und ein Stift. Seine Erzählung war einfach zum Stillstand gekommen. Ohne wirkliches Ende, ohne tiefere Bedeutung.

The Specials - Ghost Town [Official HD Remastered Video] - YouTube

 

4 Kommentare:

  1. Insofern würde auch das abgewandelte Brecht-Zitat am Ende hier passen:

    Und so sehen wir betroffen
    Den Vorhang zu und alle Fragen offen

    (Marcel Reich - Ranicki)

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  2. tolle geschichte, sehr berührend, ich kenne solche menschen auch aus der kleinstadt, erstarrt vor schreck.

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    1. Danke. Einsamkeit kann einen Menschen härter treffen als Armut. Familie und Freunde sind unbezahlbar. Selbst meine ganzen Nachbarn sind nett, das ist auch nicht selbstverständlich.

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