„Gleich würde die Abspielnadel in meinem Geist die
letzte innere Rille erreichen, um dann mit scheinbarer Bedeutung weiterzulaufen
und dreiunddreißigmal in der Minute zu knacken. Schließlich würde jemand den
Tonarm wegheben müssen, und Stille würde sich herabsenken.“ (Christopher
Priest: Der weiße Raum)
Die
zweite Hälfte seines Lebens war ein sanfter Abstieg. Kein Absturz, Stufe um
Stufe nahm es ab, wurde weniger, verschwand in Zeitlupe. Als er fünfzig war,
ließ sich seine Frau von ihm scheiden. Die Ehe war kinderlos geblieben. Mit
fünfundfünfzig verlor er seinen Job in der Lohnbuchhaltung an ein
Computerprogramm. Mit sechzig ging es ihm gesundheitlich so schlecht, dass er
in den Vorruhestand versetzt wurde, um wenigstens die Arbeitslosenstatistik
nicht weiter zu belasten. Einen Teil seiner Freunde hatte er verloren, als sie
Familien gegründet hatten, einen anderen Teil durch Umzug oder zunehmende
Gleichgültigkeit. Geblieben waren ihm das Ein-Zimmer-Appartement, in das er
nach der Scheidung gezogen war, und sein alter Trinkbruder Michael, den er seit
der Schulzeit kannte.
Es war
ein bescheidenes Leben, aber es genügte ihm. So hätte alles ausklingen können,
aber es kam alles anders. Sein Vermieter verkaufte die Wohnung und der neue
Eigentümer meldete Eigenbedarf an. Es blieben ihm drei Monate, um sich in Köln
eine neue Wohnung zu suchen. Dreizehnhundert Euro Frührente – da waren die
Möglichkeiten begrenzt. Er schaffte es noch nicht einmal, zu einer
Wohnungsbesichtigung eingeladen zu werden. Eines Abends, in einem Wirtshaus in Nippes,
schilderte er Michael seine Probleme. Michael war eisern Junggeselle geblieben
und arbeitete in der Stadtverwaltung. Er hatte von seinem Vater ein winziges
Chalet in den Schweizer Alpen geerbt und schlug ihm vor, dort einzuziehen. Er
müsse nur die Hütte in Ordnung halten und die Nebenkosten tragen. Das Geschäft
war in wenigen Minuten besiegelt und sie stießen miteinander an.
In den
nächsten Wochen verkaufte er seine Möbel und Geräte, den Fernseher, den
Computer und die Waschmaschine. Er verschenkte Bücher und CDs, den Rest ließ er
von der Müllabfuhr abholen. Am letzten Tag stand er mit einem gepackten Koffer
in der leeren Wohnung, die er besenrein mitsamt den Schlüsseln dem neuen
Eigentümer übergab. Er verbrachte noch eine Nacht in einer Pension und fuhr am
nächsten Morgen über Basel und Zürich in den Kanton Graubünden. In seinem
Koffer befanden sich nur Kleidungsstücke, Bettzeug, Zahnbürste und Kamm, ein
Fotoalbum und einige Dokumente wie sein Abiturzeugnis und der Rentenbescheid.
Es sollte ein echter Neuanfang werden.
Die
Hütte stand einige hundert Meter vom Dorf Guarda im Unterengadin entfernt. Dort
gab es einen Supermarkt und ein Gasthaus. Die Hütte war aus groben Balken
gezimmert und nicht groß. Ein Bett, ein Tisch und zwei Stühle sowie eine
Kochecke. Kein Internet, kein Fernsehen, kein Radio, ein Telefon. Aber Strom
und fließend kaltes und warmes Wasser. Dusche und Toilette funktionierten. Er
war zufrieden. Alles, was seinem Leben bisher Struktur gegeben hatte, war weg.
Keine Frau, keine Arbeit, keine Freunde. Kein Internetlektüre am Morgen, kein
Radiogedudel am Nachmittag, kein Fernsehprogramm am Abend. Selbst auf Kaffee
und Bier wollte er verzichten.
Am
nächsten Morgen ging er in den Dorfladen, um einzukaufen. In der Hütte gab es
einen Kühlschrank, in dem er Butter, Wurst und Käse deponierte. Außerdem hatte
er sich Schreibhefte gekauft. Ein paar Kugelschreiber hatte er aus seiner alten
Wohnung mitgenommen. Er wollte schreiben. Schreibend zu sich selbst kommen. Das
hatte er irgendwo mal gelesen. Die ganzen Ablenkungen aus dem Leben
eliminieren. Alles, was Zeit und Energie kostet. Politische Debatten, die sich
seit Jahrzehnten sinnlos im Kreis drehten. Belanglose Krimiserien und
Spielfilme, Verbrauchermagazine und Talkshows. Die ewig gleichen Popschnulzen
und Verkehrsmeldungen im Radio. Peinliche Online-Scharmützel auf irgendwelchen
Plattformen.
Nach
einem ausgiebigen Frühstück - Schinken und Bergkäse schmeckten an der frischen
Luft auf knapp siebzehnhundert Metern unvergleichlich viel besser als in Köln -
setzte er sich an den Tisch und fing an zu schreiben. Er hatte sich
vorgenommen, seine Arbeit chronologisch aufzubauen. Seine Lebenserfahrungen
sollten nach Jahren geordnet sein. Da seine Erinnerungen aus der Vorschulzeit nur
aus kurzen, unzusammenhängenden Bildfetzen bestanden (ein toter Vogel am
Straßenrand, ein Streit der Eltern oder der Blick aus dem Kindergartenfenster,
als er wieder einmal, von der Gruppe wegen irgendeines Fehlverhaltens
ausgeschlossen, alleine auf dem Flur stand), wollte er mit dem ersten Schuljahr
beginnen. Er schrieb die Jahreszahl auf die erste Seite und überlegte. Was fiel
ihm zu diesem Jahr ein? Er sah sich das Foto von seinem ersten Schultag im
Album an. Er stand in kurzen roten Hosen und einem gelben Hemd vor einer
Schiefertafel, auf der „Mein 1. Schultag“ stand. In den Armen hielt er eine
riesige bunte Schultüte. Aber was hatte er in diesem Jahr erlebt?
Die
ganze Grundschulzeit war ebenso ungeordnet wie die Vorschulzeit. Er hatte klare
Erinnerungen an einen Campingurlaub in der Eifel. Die Familie hatte zwei Wochen
in einem Zelt am Laacher See verbracht. Auf einem Gaskocher hatten sie
Konserven warm gemacht. Eine Reise nach Holland, ans Meer. Die Windmühle aus
Holz hatte jahrelang in ihrer Küche auf dem Fensterbrett gestanden. Seine
Schulfreunde von damals. Er war der Einzige, der nach der Grundschule aufs
Gymnasium gegangen war. Sie hatten sich bald danach aus den Augen verloren. Je
länger er über seine Erinnerungen nachdachte, desto sinnloser erschien ihm sein
Vorhaben. Warum sollte er all diese Dinge aufschreiben? Wer sollte es lesen?
Für andere Menschen war es bedeutungslos, dass er mal im Handballverein gewesen
war. Er konnte sich selbst an kein einziges Spiel erinnern.
Am
Abend saß er vor der Hütte und blickte ins Tal hinab. Die Ruhe war unglaublich.
So ein friedlicher, idyllischer Ort. Er lebte dort, wo andere Urlaub machten.
Er war zufrieden. Er hatte den ganzen Ballast des alten Lebens abgeworfen. In
den folgenden Wochen ging er oft im Wald spazieren. Erst nur wenige hundert
Meter, aber die Strecke wurde immer länger. Er spürte, wie die Kraft in seinen
Körper zurückkehrte. Er hatte den ganzen Tag Zeit. Zeit, um zu schreiben.
Vielleicht sollte er Geschichten schreiben. Sich Figuren und Handlungen
ausdenken. Er hatte hunderte Bücher gelesen. So schwer konnte es nicht sein. Er
würde mit seiner neugewonnenen Energie neue Welten schaffen. Erst kurze
Erzählungen, dann vielleicht einen ganzen Roman. Nach ein paar Jahren würde er
in die Stadt zurückkehren und ein neues Leben als gefeierter Schriftsteller
beginnen.
Aber
die Schreibhefte blieben leer. Sein Leben war leer. Sein Kopf war leer. Nach
der ersten Euphorie nach dem Umzug begriff er, dass nur diese Leere geblieben
war. Ungeheuerlich groß für ihn, kläglich für den Rest der Welt. Es gab nichts,
dass er schreiben konnte. Keine Erinnerung, die es wert gewesen wäre. Keine
Idee für eine Geschichte, die ihn oder andere begeistern könnte. Er hatte das
Grundgerüst seines Lebens im Kopf. Er wusste, welchem Abiturjahrgang er
angehörte, wann er geheiratet hatte und wann er von seiner Frau geschieden
wurde. Wann er als Lohnbuchhalter angefangen hatte und wann er entlassen wurde.
Aber was war während seiner Ehe und seiner Arbeitszeit passiert? Belanglosigkeiten,
kaum des Erinnerns wert. Je weiter er in sich hineinhörte, desto weniger
Material fand er. Was sollte er sich selbst und seinen Lesern erzählen? Wo war
der Ausgangspunkt einer tragfähigen Handlung?
Er
blieb morgens immer länger im Bett liegen. Er wusch sich nicht mehr und
wechselte seine Klamotten nur noch, wenn er ins Dorf ging. Niemand von den
hundertsechzig Einwohnern Guardas kannte er, niemand grüßte ihn. Er wechselte
nur wenige Worte mit der Kassiererin im Volg-Laden und mit der Kellnerin im Crusch
Alba. Auch das neue Leben bot ihm kein Material. Hatte ihn am Anfang noch das
Vogelgezwitscher am frühen Morgen erfreut, der Wind in den Bäumen oder der
prasselnde Regen, war es jetzt die monotone Geräuschkulisse eines leeren
Lebens. Am schlimmsten war es am Morgen, wenn er aufwachte und ein ganzer
langer Tag ohne Aufgaben und Begegnungen wie ein leeres Blatt Papier vor ihm
lag, und am Abend, wenn die Langeweile wie ein Stein auf ihm lastete. Sein
altes Leben in Köln fehlte ihm, und er vermisste die Stimmen und Gesichter, die
sein Leben geprägt hatten.
Er
fing wieder an zu trinken. Schnaps. Besser als jeden Tag einen Rucksack voller
Bierflaschen den Berg hinaufzutragen. Im Suff schrieb er gelegentlich ein paar
Zeilen. Gekrakel, das er am nächsten Morgen schlechtgelaunt aus dem Heft riss
und in den Mülleimer warf. So gingen die Monate dahin und als sein alter Freund
Michael schließlich in seinem Sommerurlaub zu Besuch kam, fand er die Leiche
des Mannes auf dem Boden der Hütte. Auf dem Tisch lagen ein leeres Heft und ein
Stift. Seine Erzählung war einfach zum Stillstand gekommen. Ohne wirkliches
Ende, ohne tiefere Bedeutung.
The
Specials - Ghost Town [Official HD Remastered Video] - YouTube
Insofern würde auch das abgewandelte Brecht-Zitat am Ende hier passen:
AntwortenLöschenUnd so sehen wir betroffen
Den Vorhang zu und alle Fragen offen
(Marcel Reich - Ranicki)
Verfilmen!
AntwortenLöschentolle geschichte, sehr berührend, ich kenne solche menschen auch aus der kleinstadt, erstarrt vor schreck.
AntwortenLöschenDanke. Einsamkeit kann einen Menschen härter treffen als Armut. Familie und Freunde sind unbezahlbar. Selbst meine ganzen Nachbarn sind nett, das ist auch nicht selbstverständlich.
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