Der
junge Mann spazierte durch den Park. Es war ein stiller Tag. Nicht einmal die
Vögel waren zu hören. Auf einer Bank saß ein Mann in einem dunkelgrauen Anzug.
„Verzeihen
Sie“, sagte der junge Mann. „Können Sie mir sagen, in welcher Stadt ich bin?“
Er war
selbst überrascht, dass er es nicht wusste.
„Das
ist doch egal“, sagte der Mann auf der Bank, ohne den Kopf zu heben.
„Bitte.
Ich muss doch wissen, wo ich bin.“
„Alles
ist egal“, sagte der Mann und ließ den Kopf auf die Brust sinken.
Der
junge Mann ging weiter. Wenig später trat er aus dem Park auf die Straße.
Niemand war zu sehen, es gab auch keine Autos. Nur eine endlose Reihe dreistöckiger
Wohnhäuser. Auf jedem Klingelbrett standen sechs Namen. Ein Haus glich dem
anderen.
Ein
Fenster im Erdgeschoss öffnete sich und eine Frau legte das Bettzeug auf die
Fensterbank. Der junge Mann hatte schon lange keinen Menschen mehr gesehen, der
das Bettzeug lüftete.
„Guten
Tag“, sagte er. „Können Sie mir den Namen dieser Stadt verraten?“
„Diese
Stadt hat keinen Namen“, antwortete die Frau ruhig.
„Warum
nicht?“
„Weil
sie keinen Namen braucht. Hier leben die Toten.“
Der
junge Mann lachte. „Sie haben ja einen rabenschwarzen Humor.“
Die
Frau sagte nichts.
„Dann
wollen Sie mir also weißmachen, wir beide wären tot.“
„Ja“,
sagte die Frau nur.
„Wenn
ich gestorben wäre, hätte ich es doch mitbekommen“, sagte der junge Mann.
„Vielleicht
sind Sie ihm Schlaf gestorben oder ein Blumentopf hat sie getroffen.“
Der
junge Mann lächelte, aber insgeheim ärgerte er sich über das unsinnige
Gespräch. Damit es nicht völlig umsonst war, fragte er: „Können Sie mir sagen,
wo ich hier ein Restaurant finde?“
Er
hatte zwar keinen Hunger, aber er wollte bei seinem Spaziergang doch wenigstens
ein Ziel haben.
„Es
gibt keine Restaurants. Es gibt auch keine Geschäfte. Keine Schulen, keine
Fabriken. Die Toten brauchen nichts.“
„Arbeitet
denn hier niemand?“ fragte der junge Mann.
„Wozu“,
antwortete die Frau.
„Warum
lüften Sie dann das Bettzeug?“
„Irgendwas
muss man doch machen“, sagte sie, schüttelte den Kopf und verschwand vom
Fenster.
Der
junge Mann ging weiter. Eine Stunde, zwei Stunden. Es gab tatsächlich keine
Gasthäuser oder Geschäfte. Keine Innenstadt, keinen Marktplatz, nichts. Er sah,
dass eines der Wohnhäuser offenstand. Er ging hinein und klopfte an eine Tür im
ersten Stock. Niemand öffnete. Er drückte die Türklinke. Die Tür war offen.
Niemand war in der Wohnung, die nur mit einem Bett, einem Tisch und einem Stuhl
eingerichtet war.
Die
Wohnungstür gegenüber öffnete sich. Ein alter Mann streckte den Kopf hinaus.
„Sie
sind der neue Mieter“, sagte er nur.
„Ist
die Wohnung denn zu haben?“ fragte der junge Mann.
„Sie
ist nur für Sie. Sie haben sie ausgesucht.“
„Und
was soll ich hier machen?“
„Nichts“,
sagte der alte Mann und schloss die Tür.
Simply
Red - Holding Back The Years (Symphonica In Rosso) - YouTube
Ach, irgendwie erinnert mich das an einen alten Text von mir. Ich verblogge den mal bei Gelegenheit ...
AntwortenLöschenWenigstens haben die Toten keinen Wohnungsmangel.
AntwortenLöschenSo mancher würde seine Seele für eine Wohnung in der Großstadt geben. Hier im Hunsrück sucht man händeringend Mieter oder Käufer für die preiswerten Baugrundstücke (teilweise unter 100 € /qm).
LöschenDa isser:
AntwortenLöschenNekropolis
http://www.flusskiesel.de/blog/nekropolis
Großartige Story. Du bist ein guter Erzähler. Solche Sachen hast du einfach irgendwo auf dem Rechner? Das hätte ich noch am selben in mein Blog gebeamt und angegeben wie ein Sack Mücken :o)
LöschenJetzt habe ich noch ein bisschen im Blog geschmökert. Danke für die vielen Links auf meine Texte. Da werde ich mich dieser Tage mal revanchieren.
LöschenDu bist aus Duisburg? Bin großer Fan. Ein Freund aus Schweppenhausen hat dort 18 Semester Sozialdingsbums studiert, ohne einen einzigen Schein zu machen. Ich habe ihn jedes Jahr ein paar Mal besucht. Ruhrpott at its best.
Besten Dank! Ich habe noch einige auf der Platte. Sind aber alles schon älter. Irgendwie bin ich aus dem Geschichtenschreiben ein wenig herausgefallen durch die blöde Krankheit und anderer Malessen.
LöschenVielleicht poste ich die Tage mal die eine oder andere olle Kamelle!
Gern geschehen! :-)
LöschenJa, bin Wahl-Duisburger (oder, wenn man meinen Bauch betrachtet: Wal-Duisburger) und fühle mich sehr wohl in dieser Stadt.
Übrigens wohne ich ziemlich in der Nähe der Uni (Finkenkrug!). .-)
Das Studentenwohnheim, in dem M. gewohnt hat, ist in der Kammerstraße, neben dem Hochbunker. Da konnte ich vom Hbf immer zu Fuß hingehen. Wenn da keine Party war, ging es in die Kneipen. War immer lustig, ich habe aber z.B. den Rhein nie gesehen ;o)
LöschenDie Kammerstraße kenne ich natürlich gut. Solltest Du mal hier in der Gegend sein und es Dir nach Gesellschaft gelüstet, melde Dich einfach!
LöschenMach ich gerne :o)
LöschenAndy Bonetti hatte einen schlechten Tag, er wachte im Knast auf, ... mit einem Gichtanfall, Ende der Geschichte.
AntwortenLöschenDas ist keine Geschichte. Das ist noch nicht mal ein richtiger Satz.
LöschenTOTE LEBEN LÄNGER...
AntwortenLöschenWörtliche Übersetzung: "Lange wird leben, von dem man spricht, dass er starb." ... Wörtliche Übersetzung: "Totgesagte leben angeblich hundert Jahre." Ungarisch: Akinek a halálhírét költik, az sokáig él. Wörtliche Übersetzung: "Jemand, dessen Todesnachricht verkündet wird, lebt lange."
*weissteBescheid*
Vielleicht "lebt" der junge Mann länger in der Totenstadt als in seinem früheren Leben. Die Ewigkeit zieht sich wie Kaugummi :o)
LöschenHerr Eberling, Ihre Bandbreite ist enorm. Heute haben Sie es geschafft, dass ich beim Lesen Gänsehaut bekam. Danke!
AntwortenLöschenVielen Dank!
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