Montag, 23. Mai 2016

Glück, Moral, Gewissen – eine Fallstudie

„Er glaubte immer noch an das Schöne in der U-Bahn, das Gute im Kühlschrank und das Wahre in der Zeitung.“ (Lupo Laminetti)
Es war 1986, ich lebte in Ingelheim und machte gerade Zivildienst. Es ist schon spät, als ich von der Kneipe nach Hause komme. Vor unserer Mietskaserne an der Rheinstraße steht eine Telefonzelle, sie ist hell erleuchtet und der Leuchtturm meiner kleinen Reise. Ich schaue hinüber und was sehe ich? Auf dem Kasten mit der Wählscheibe und dem Geldeinwurfschlitz liegt eine Brieftasche!
Ich öffne die Tür der gelben Zelle und stecke die schwarze Lederbrieftasche ein, ohne lange nachzudenken. Ich gehe die Treppe hinauf in den zweiten Stock, öffne die Wohnungstür und betrete mein Zimmer. Meine Mutter schläft längst. Ich hole die Brieftasche aus meiner Jackentasche und schaue mir den Inhalt an. Sie gehört einem amerikanischen Soldaten, seine ganzen Papiere sind in verschiedenen Fächern, dazu eine lange Reihe von Fotos in einzelnen Schubfächern. Offenbar seine Familie, seine Eltern, seine Frau, seine Kinder. Kreditkarte, Kundenkarte (PX – die Ladenkette für Angehörige der US-Streitkräfte). An Bargeld finde ich Dollars und D-Mark. Umgerechnet 270 Mark in bar!
Was soll ich machen? Ich verdiene zu diesem Zeitpunkt 321 DM im Zivildienst. Schichtdienst, Wochenenddienst, Altenpflege, Siechtum, Sterben, Leichen waschen. Das ist fast ein ganzer Monatslohn. Und die GIs verdienen in den Reagan-Jahren durch den günstigen Wechselkurs in Deutschland eine Menge Kohle. Also beschließe ich, das Geld zu behalten. Aber die Brieftasche einfach wegwerfen? Geld kommt und geht, aber es ist mühsam, die ganzen Papiere neu zu beschaffen, und die Fotos haben einen persönlichen Wert für diesen Mann, der ein paar Kilometer weiter in Wackernheim stationiert ist. Andererseits ist er ein Vertreter des US-Imperialismus, ein Teil der kapitalistischen Kriegsmaschinerie. In Wackernheim sind Atomwaffen stationiert.
Ich überlege eine Zigarettenlänge, was ich tun soll. Zwei Zigarettenlängen.
Gut. Ich behalte die Scheine. Die Brieftasche schicke ich per Post zurück an die Kaserne des Soldaten. Ich kenne ihn nicht, aber er ist durch den Verlust des Geldes genug gestraft. Er ist nicht nur eine Killermaschine, er ist ein Mensch, dem die Bilder seiner Familie fehlen. Damals gab es noch kein Internet und auch keine Smartphones. Fotografien hatten noch eine Bedeutung. Die Papiere haben eine Bedeutung, denn es bringt ihm eine Menge Ärger ein, wenn er seinen Vorgesetzten erzählen muss, er habe alles verloren. Der Russe freut sich über diese Unterlagen.
Ich stecke die Brieftasche in einen wattierten Umschlag und schreibe „Porto zahlt Empfänger“ drauf. Die Adresse: U.S. Forces, Wackernheim. Natürlich kein Absender. Ins Geldfach lege ich einen Zettel: „Sorry for taking the money but I’m a poor man. God bless You and Your family.“ Dann werfe ich den Umschlag in den Briefkasten vor unserem Haus.
Was hätten Sie an meiner Stelle gemacht? Wie hätten Sie sich entschieden?
New Order - Thieves Like Us. https://www.youtube.com/watch?v=Fc1ldXDJicY

11 Kommentare:

  1. War 1986 nicht auch das Jahr wo die RAF den GI umgebracht hat wegen der Ausweispapiere mit denen sie dann diesen Bombenanschlag gemacht haben? Da war was um 1985/86. Da musste man sich vielleicht schon überlegen on man im Schatten dessen das Ding zurückschicken würde. (Ich vermute, ich hätte vielleicht so überlegt, wenn ich 15-20 Jahre früher geboren wäre.) Obwohl ich glaube nachvollziehen zu können, dass man sich nicht so unbedingt Gedanken darüber machte ob diese GIs „white trash“ sein könnten und ein objektiv armes Schwein hat natürlich auch immer noch nicht automatisch einen Grund zur Armee zu gehen… Ich weiß nicht wie ich das gemacht hätte.


    (Ich finde das auch heute arg kritisch. Ex-Kommilitone von mir ist Feldwebel in Reserve – wir zoffen uns oft genug! – und er sagt, da sind viele aus Ostdeutschland, die sich rekrutieren lassen aus Regionen wo es keine Zukunft gibt. Die Armee eröffnet denen aber so ziemlich alles – Ausbildung oder Studium, Perspektive … - und deshalb kommen die, weil es als einzige Chance empfunden wird. Kann man objektiv irgendwo nachvollziehen, rechtfertigt es aber nicht und moralisch schon gar nicht.)


    Habe gerade "geforscht", laut Wikipedia war das mit dem Soldaten 1985: https://de.wikipedia.org/wiki/Pimental

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    1. Theoretisch hätte ich die Papiere auch der RAF geben können. Aber wenn ich einfach "RAF, Untergrund" auf den Umschlag geschrieben hätte, wären die Papiere doch nie angekommen.

      Spaß beiseite, die Terroristin, die für den Mord an dem GI und den anschließenden Bombenanschlag auf die US Air Base in Frankfurt ins Gefängnis musste, wurde von einem Ingelheimer V-Mann vom Verfassungsschutz enttarnt.

      https://de.wikipedia.org/wiki/Klaus_Steinmetz

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    2. Weiß ich. Kennst du "Black Box BRD" von Andres Veiel? Im Buch ist das ausführlicher beschrieben, der Film (Doku) ist aber auch gut. Birgit Hogefeld ist auch einige der wenigen, die sich später distanziert haben, deshalb wollte sie nicht im Veiel-Film mitmachen (sagt Veiel im Bonusmaterial).

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  2. Ich hätte in der Kaserne angerufen und alles zurückgegeben.Fertig. No Politics.

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  3. Ich hätte die Kohle behalten und der Rest weggeschissen,
    weil ich in dem Alter ein ziemliches Arschloch war.
    Jetzt stellt sich natürlich die Frage, was isser heute ??

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  4. Vier Gallonen JimBeam, 5 Stangen Fluppen und 3 Levis und die Sacher wäre vergessen.

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  5. Wie man auch hier wieder zu verstehen beigebogen bekommt, ist es einfach egal, wie du dich entscheidest. Das moralische Urteil derer, die sich auf die gefällte Entscheidung stürzen, ist deren ganz private Glücksquelle.
    Ich finde aber die angebotenen abstrakten Dezisionen einiger Kommentatoren weit weniger sympathisch als die beschriebene Abwägung aus der Konkretion der Lebenslagen heraus.

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  6. Dieser Lupo Laminetti hatte es bestimmt nicht leicht in der Schule.
    Er rächt sich aber vorzüglich und nobel durch dieses niederschmetternde Charakterbild, das sozusagen den Idealtypus seiner Schulkameraden genüsslich niedermacht.

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  7. Wenn ich mal Revue passieren lasse, was ich an Geld und Waren in meinem Leben gefunden und "gefunden" habe, und was ich gestohlen bekommen habe, schuldet mir das Schicksal noch Geld. ;o)))

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    1. Das "Schicksal" ist eine prompt funktionierende Inkassogesellschaft.
      Von dem kriegt man nie etwas zurück.

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  8. Ich hätte es genau so, auch gemacht.

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