„Die Herrschaft des Niemand, die eigentliche Staatsform der Bürokratie.“ (Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem)
Es war ihr nicht leicht gefallen, aber letztlich blieb ihr nichts anderes übrig. Wenn sie die Miete bezahlt hatte, blieben ihr gerade noch zweihundert Euro. Davon kann man nicht einen Monat lang leben. Vielleicht wenn man sich von Leitungswasser, Toastbrot und Margarine ernährte. Aber von dem Geld musste sie auch noch Klamotten, Hygieneartikel, Handy, Internet und Fernsehen bezahlen. Und sie durfte gar nicht darüber nachdenken, wie sie sich eine neue Waschmaschine oder einen neuen Computer leisten sollte.
Und jetzt stand sie in der Behörde und schaute sich die Hinweistafel an. „Landesamt für soziale Gerechtigkeit“, kurz LaSoGe genannt. Als sie vor vierzig Jahren nach Berlin gekommen war, war in diesem Gebäude noch das LaGeSo untergebracht gewesen. Jetzt kümmerte man sich hier nicht mehr um Migranten, sondern um die Sozialfälle der Stadt. Schlimm genug, dass sie als Rentnerin ein Sozialfall geworden war. Sie hatte immer gearbeitet, aber von sechzehnhundert Euro netto blieben ihr eben nur siebenhundert Euro, 43 Prozent dank der SPD-Rentenreform. Dafür hatte sie bis zu ihrem siebzigsten Geburtstag im Büro einer Spedition gearbeitet.
„Gewährleistung des Existenzminimums – Antragsstelle“ las sie auf der Hinweistafel. „Untergeschoss 3, Zimmer 1041“. Aber sie hatte es falsch gelesen, es hieß 104 I. Und als sie um dritten Untergeschoss aus dem Fahrstuhl trat und nach Zimmer 1041 suchte, fand sie es natürlich nicht. Sie ging die Flure auf und ab. Kein Mensch war zu sehen. Über ihr das kalte weiße Licht der Neonröhren im Keller der Behörde.
Dann kam sie am Ende eines Ganges an eine Tür, die keine Nummer trug. Vielleicht ging es hier zu den Büros mit den höheren Nummern? Vorsichtig öffnete vorsichtig sie die graue Tür. Sie blickte in tiefe Finsternis. Nur einige Stufen wurden vom Gang aus beleuchtet. Sie stieg die Treppe hinab. Komisch, dachte sie. Es geht also noch weiter nach unten. Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss, aber am Fuß der Treppe konnte sie ein schwaches Licht sehen. Sie ging auf das Licht zu und stand einige Augenblicke später auf einem Gang, der aus Backsteinen gemauert war. Das Licht war mild und warm, ganz anders als in der Behörde. Sie folgte dem Gang und kam bald darauf in ein Gewölbe. Ein großer Raum mit einer bogenförmigen Decke, an dessen Wänden Metallregale mit großen Pappkartons standen. „Formular XP-14“, Formular XP-15“, „Formular XP-16“. Gegenüber war ein weiterer Gang.
Und dann sah sie die Augen. Kauerte dort ein Wesen? Gab es hier unten Tiere? Die Augen verschwanden und sie hörte Geräusche, die sich rasch entfernten.
Neugierig folgte sie dem Wesen in den Gang und sah gerade noch, wie es um eine Ecke verschwand. Sie lief schneller und folgte den Windungen des Gangs. Wer mochte hier unten hausen?
Und dann stand plötzlich der Mann vor ihr.
Sie schrie vor Schreck.
Ein großer schwarzer Mann in einem weiten Umhang. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie dort gestanden hatte.
Aber dann lächelte der Mann und seine weißen Zähne leuchteten im Dämmerlicht.
„Keine Angst“, sagte er.
„Wer … wer sind Sie?“ fragte sie verwirrt. „Arbeiten Sie für die Behörde?“
„Nein“, antwortete der Mann. „Ich heiße Jonathan. Arbeiten Sie für die Behörde?“ Sein Lächeln war verschwunden.
„Nein, ich wollte einen Antrag stellen.“
Er lachte erleichtert auf. „Das wollten wir alle mal. Kommen Sie bitte mit.“
Und sie folgte ihm durch ein Labyrinth von Gängen bis zu einer geräumigen Höhle. Hier waren viele Menschen versammelt. Ein kleines Mädchen drückte sich an seine Mutter und sah sie mit großen Augen an. Sie kannte diese Augen. Das Kind hatte sie also zuerst entdeckt und sie war der Kleinen gefolgt.
„Was machen Sie denn alle hier?“ fragte sie verblüfft.
Jonathan bat ihr ein Sitzkissen und einen Becher Wasser an. Dann begann er zu erzählen.
„Wir wohnen schon seit vielen vielen Jahren hier unten. Wir kamen nach Deutschland, um Asyl zu beantragen. Unsere Anträge wurden abgelehnt. Dann haben wir diese Welt unter dem LaGeSo entdeckt und sind hier eingezogen. Manche von unseren Kindern sind in Darkland geboren. Eine Frau ist hier sogar Großmutter geworden.“
„Darkland?“
„So nennen wir unsere Welt.“
„Und wie ernähren Sie sich?“
„Nachts kommen wir heraus und holen uns aus den Mülltonnen hinter den Supermärkten und Restaurants unser Essen. Wir haben einen Dietrich, um die Türen der Behörde zu öffnen. Unser Wasser und den Strom holen wir uns aus angezapften Leitungen. Müll und Exkremente werden durch einen Gang zur Kanalisation entsorgt, den wir gegraben haben.“
„Es ist ein Wunder, dass man Sie so lange nicht entdeckt hat.“
„Ja, und so soll es auch bleiben. Deswegen dürfen wir Sie auch nicht mehr weglassen.“
„Warum?“
„Weil wir Angst haben, von Ihnen verraten zu werden. Wir wollen alle hier bleiben. Und ein paar von uns gelingt es jedes Jahr, dort oben eine eigene Existenz aufzubauen.“
Und so blieb die Frau als Mitglied der Gemeinschaft bis zu ihrem Tod in Darkland. Sie unterrichtete die Kinder und brachte ihnen Lesen und Schreiben bei. Sie erzählte ihnen von der Welt dort draußen und bereitete sie auf ein Leben in der großen Stadt vor.
Niemand hat jemals nach ihr gesucht.
Blancmange – Blind Vision. https://www.youtube.com/watch?v=UPcHYwdSKpQ
Leider, leider gar nicht so unrealistisch um irgendwann wahrzuwerden. Das Etikett Science Fiction-Autor kannst du vergessen oder erst dann bekommen wenn das allseits die Realität ist und du darüber schreibst, dass es irgendwo 70-jährige mit einer vorhandenen und unantastbaren Rente und finanziell arme Menschen in einem westlichdefinierten Land gibt, die nicht im Müll suchen müssen gibt.
AntwortenLöschenWer Science Fiction lesen will, kann sich die Parteiprogramme der Regierungsparteien vornehmen ;o)
LöschenWen es nach Dystopien beliebt auf jeden Fall. (Mich wundert übrigens immer wieder mal, dass dieses Sub-Genre so beliebt ist - ja, ich weiß, die Schnulzen -, man bräuchte sich nur mal umsehen oder den Hirnkasten einschalten, dann hat man seine Dystopie live, in Farbe, Sepia, Technicolor oder wie auch immer es beliebt, direkt vor der Nase. schwarz-weiß habe ich extra nicht mit aufgezählt.) 7
LöschenIch hatte für diese Sache auf dem Blog von Jutta Reichelt mal in ein paar Minuten eine Sache über eine Rentnerin in 2016, die zur Tafel muss fabriziert, das scheint (auch positiv) geschockt zu haben, weil es eben da ist und es jeder weiß, aber keiner hinsieht.
Ich denke, es gibt Darklands in Germany.
AntwortenLöschenInteressant zu lesen. Rassige Schreibe, wie man in der Schweiz sagt. Bin gar nicht der Sci-Fi-Fan und war umso überraschter, dies hier als solchen bezeichnet zu finden.
AntwortenLöschenLaura
www.seieinheld.blogspot.ch