„Langsam, sachte existieren, wie diese Bäume, wie eine Pfütze, wie die rote Sitzbank in der Straßenbahn.“ (Jean-Paul Sartre: Der Ekel)
Es ist schön, wenn man sich auf etwas verlassen kann. Und damit meine ich nicht nur die Zapfanlagen und Kaffeemaschinen. Ich spreche von den Regelmäßigkeiten des Tages, von allem Wiederkehrenden, das mich beruhigt, von den Menschen, die sich so langsam verändern wie die Bäume, deren Wachstum wir ab einem gewissen Alter nicht mehr bemerken.
Nehmen wir zum Beispiel Reisinger und Saalwächter. Sie kommen jeden Nachmittag zwischen drei und vier Uhr. Sie setzen sich an einen Tisch am Fenster und trinken zwei oder drei Bier. Sie trinken nie etwas anderes. Es ist ein uraltes Ritual. „Wie immer?“ frage ich die beiden Rentner. „Wie immer“, antwortet einer von ihnen und manchmal sagen sie es im Chor und lächeln dann triumphierend, als hätten sie gerade ein Kunststück zur Aufführung gebracht. Wenn ich hinter dem Tresen zu tun habe, schaue ich sie einfach an, und sie nicken lächelnd. Eine eingespielte Mannschaft.
Ich habe hier so viele Menschen kommen und gehen sehen und doch ist alles immer gleich geblieben. Früher tranken die jungen Leute schwarzen Kaffee, heute trinken sie Latte Macchiato. Vor dreißig Jahren schwiegen sich die Schüler der Oberstufe beim Schachspiel an, heute schauen sie stumm auf die winzigen Bildschirme ihrer Smartphones. Unser Gasthaus ist nur wenige Schritte vom Ingelheimer Bahnhof entfernt. Ab fünf Uhr kommen die Berufspendler zu uns herein. Die verheirateten Angestellten trinken nur schnell ein Bier und gehen anschließend nach Hause. Die Junggesellen trinken zwei oder drei Bier, die älteren Junggesellen bleiben oft bis in die Nacht. Sie haben keinen Grund, nach Hause zu gehen. Später am Abend kommen dann die Trinker, die zu jedem Bier oder zu jedem Glas Weinschorle noch einen Schnaps bestellen.
Ärger hatten wir fast nie. Die Trinker kennen sich untereinander und in einer kleinen Stadt wie Ingelheim kann man sich Hausverbote wegen Schlägereien oder Zechprellerei nicht leisten. Es gibt zu wenige Gaststätten, es fehlen ihnen schlicht die Ausweichmöglichkeiten. Früher gab es höchstens einmal eine Schlägerei, wenn die amerikanischen Soldaten einmal im Monat ihren Sold ausbezahlt bekommen haben. Dann hat der Wirt die Polizeistation angerufen und die Polizei die amerikanische MP. Das waren furchterregende Typen, die kein Wort gesprochen haben. Die Militärpolizisten haben sämtliche GIs aus dem Lokal geprügelt und auf Lastwagen verfrachtet, die zurück zur Kaserne in Wackernheim fuhren.
Selbst im Krieg war es in unserem Gasthaus immer gleich. Die alten Stammgäste blieben, die jungen Leute mussten zur Front. Ein paar Mal sind Bomber über Ingelheim geflogen, aber weder die Briten noch die Amerikaner haben jemals eine einzige Bombe auf diese Kleinstadt abgeworfen. Selbst als Mainz 1945 vollständig in Trümmern lag, gingen hier die Geschäfte weiter. Als die Amerikaner einrückten, fiel kein einziger Schuss. Sie blieben nur wenige Monate und beschwerten sich, dass wir keinen Whisky führten. Dann kamen die Franzosen für einige Jahre und beschwerten sich, dass es keinen Pernod gab. Aber den konnten wir irgendwann organisieren. Richtig lange blieben nur die Amerikaner, aber auch sie sind inzwischen wieder verschwunden.
Der erste Gast des Tages ist der alte Herr Schweickhart. Ein ehemaliger Studienrat. Er kommt um elf Uhr, wenn wir das Gasthaus öffnen, und liest in aller Ruhe seine FAZ. Er trinkt dazu ein Kännchen Kaffee und falls die Weltlage es erfordert, bestellt er auch einen Cognac. Als in New York die Flugzeuge in die Hochhäuser gestürzt sind, hat er fünf Tage hintereinander Cognac bestellt. Wenn Herr Schweickhart nur Kaffee bestellt, ist die Welt in Ordnung. Dann müssen wir uns alle keine Sorgen machen. Ich bin viel zu alt für Veränderungen. Nächsten Monat werde ich hundert Jahre alt. In der Realität mag es keine hundertjährigen Kellner geben, in der Literatur trifft man sie ständig.
Die Bäckar - Die Zeiten sind vorbei. https://www.youtube.com/watch?v=w1NTQqL14zI
Besser ist ja die Version, in der Johnny Moped im dritten Satz die Solo-Tuba spielt (war auf der japanischen Version der "Arsch offen" Konzept-LP
AntwortenLöschenWenn ich die bringe, muss eine "Explicit lyrics"-Warnung auf die Startseite ;o)
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