Dienstag, 19. April 2016

Moby Dick

„Das teuflische Geschick, das wir bei der Erfindung der verschiedensten todbringenden Maschinen entwickeln, die Rachgier, mit der wir unsere Kriege führen, und das Elend und die Verzweiflung, die sie mit sich bringen, sind ausreichende Beweise, um den zivilisierten Weißen als das wildeste Tier auf dem Erdboden zu kennzeichnen.“ (Herman Melville: Taipi)
Ismael ist der Erzähler und mit ihm bewegen wir uns von der ersten Zeile an in diesen Roman, der wie ein klassischer Abenteuerroman beginnt. Ismael, der ausgestoßene Sohn Abrahams und Stammvater aller Araber. Aber sobald wir an Bord des Schiffes sind, verlässt uns die Figur des Erzählers und taucht auf den nächsten achthundert Seiten nur noch sporadisch auf.
Auf See, in einem Boot oder auf einem Schiff, zählen die Herkunft und die Verdienste, die du an Land haben magst, nichts mehr. Selbst auf einem kleinen Segelboot kann das Kind, das die Ruderpinne hält, allen anderen Menschen – sei es ein Bankdirektor oder ein Pfarrer – Befehle geben. Auf hoher See ist die menschliche Gesellschaft, sei es die Justiz, seien es die Medien, weit entfernt. Auf einem Walfänger, der oft jahrelang keine Häfen anläuft und die gesamte Erde umkreist, gelten eigene Gesetze - und nur der Kapitän darf sie auslegen.
Die Mannschaft, deren Teil wir in diesem Roman werden, setzt sich aus vielen Völkern und Kulturen zusammen. Es ist die ganze Menschheit, die hier unterwegs ist – oder die junge Nation namens USA, pars pro toto. Das Meer ist die Welt. Wir kennen nur ihre Oberfläche, unter den Wellen verbergen sich tausend Tode und tausend Wunder. Kapitän Ahab kämpft um die Erkenntnis, er will hinter die Maske der Welt schauen. Er will die Natur, die er als Feind kennengelernt hat, in Gestalt des weißen Wals besiegen.
Seine Mannschaft folgt ihm, so wie die Massen zu allen Zeiten ihren wortgewaltigen Führern gefolgt sind. Einmal um die ganze Welt. Nicht als Entdecker, sondern um Profit mit dem kostbaren Waltran zu machen. Mit diesem Öl wurden Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, als Melville seinen Roman schrieb, die Häuser der Menschen erleuchtet, bevor Petroleum (Erdöl) und Elektrizität uns das Licht brachten.
Es sind nicht nur die Worte des Kapitäns, die sie überzeugen. Eine Golddublone für den ersten Seemann, der Moby Dick sichtet. Ahab nagelt die Münze an den Mast, jeder kann sie sehen. Jedes Besatzungsmitglied bekommt auf dieser Fahrt einen vorab festgelegten Anteil des Profits; es gibt keine Löhne, sondern Unternehmensanteile. Und außerdem ist es eine Ehre, gegen den Teufel persönlich zu kämpfen. Den einfachen Männern reichen kleine Ziele. Am Ende reißt die Gier nach Reichtum und Ehre sie alle in die Tiefe.
Nur Ismael wird gerettet. Geklammert an einen Sarg ist er der einzige Überlebende. Die Geschichte hat kein Happy End. Ismael beginnt wieder von vorne. Alles ist ein ewiger Kreislauf. Wir fahren so lange auf der See der Erkenntnis, bis wir tot sind. Ob wir klüger geworden sind, lässt Melville offen.
Die Entstehungsgeschichte dieses gewaltigen Werks und die Lebensgeschichte seines Autors sind ein einziges Elend. Wir schätzen unsere großen Köpfe nicht. Wir betten in jeder Epoche unserer Geschichte die Vollidioten in Samt und Seide. Hirnlose Bonzen sabbern auf ihr Kaviarschnittchen und grabschen traumblöde nach der Schönheit der Welt. Aber den klügsten Menschen in unserer Mitte bringen wir zu ihren Lebzeiten nur Verachtung entgegen.
Melville jagte den Erfolg als Schriftsteller so vergeblich wie Ahab seinen Wal. Die Gesellschaft hat ihn besiegt, erst nach seinem Tod wurde sein großartiger Roman endlich gewürdigt. Wir sind der Leviathan, wir sind Moby Dick.
Nick Drake - Cello Song. https://www.youtube.com/watch?v=h4y8WGOJu_c

3 Kommentare:

  1. Solltest Du demnächst "50 Bücher, die man gelesen haben sollte" in Druck geben, ich subskribiere schon jetzt.
    Einer der klügsten Interpretationsansätze, die ich kenne.

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    1. Vielen Dank! Ich habe heute "Ein Unding der Liebe" von Ludwig Fels zu Ende gelesen. Das kann ich dir und allen anderen auch nur unbedingt empfehlen. Ich hatte es 1985 zum ersten Mal gelesen und neulich fiel es mir wieder ein. Da es damals eine Leihgabe war, habe ich es mir bestellt. Es ist die Geschichte eines übergewichtigen Losers aus der bayrischen Provinz, der bei seiner Tante und seiner Großmutter aufwächst und von ihnen mit 27 Jahren verstoßen wird. Er irrt durch die kleine Welt seines Dunstkreises auf der Suche nach seiner alkoholkranken Mutter, die als Prostituierte gearbeitet hat. Er findet sie, wird zum zweiten Mal von der sterbenden Trinkerin verstoßen und scheitert endgültig. Große Prosa aus der alten Bundesrepublik. Der Blick von ganz unten auf ein System, das auch schon damals ein Alptraum war.

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  2. Immer her mit den guten Sachen!
    Schon bestellt.

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