„Meine Erinnerungen sind wie die Dukaten im Geldbeutel des Teufels: wenn man ihn öffnete, fand man nur welke Blätter darin.“
Wenn man sich lange genug der geistigen Landstreicherei hingegeben hat und es kaum noch lohnenswerte Entdeckungen in der Welt der Literatur zu machen gibt, beginnt man eines Tages, die Bücher ein zweites Mal zu lesen. Meine Lieblingsromane, Kafka zum Beispiel, habe ich natürlich schon häufig gelesen, aber viele schöne Werke habe ich tatsächlich nur ein einziges Mal genossen – oft vor einigen Jahrzehnten.
Vier Zimmer meines weitläufigen Anwesens am Rhein sind bis an die Decke mit Büchern gefüllt, dazu meine Berliner Wohnung, wo neben den beiden Bücherregalen noch überall hohe Stapel aus dem Boden wachsen. Also greife ich mir nach reiflicher Überlegung einen Band heraus und beginne zu lesen. Zunächst lese ich auf dem Vorblatt die Widmung in violetter Tinte: „Lieber Matthias! Ein Buch, das mich beim Lesen an Dich denken ließ. Schöne Weihnachten ’89, A.“ Wie schön, ein Geschenk aus meiner Studienzeit. Ob die junge Dame eine Anspielung machen wollte? Schließlich halte ich „Der Ekel“ von Jean-Paul Sartre in den Händen.
„Er wird jeden Tag der Leiche, die er sein wird, ein bisschen ähnlicher.“
Es ist ein rororo-Taschenbuch und es enthält, wie damals üblich, eine Werbebotschaft für Pfandbriefe und Kommunalobligationen. Es heißt, ein Taschenbuch enthalte im Durchschnitt fünfhunderttausend Buchstaben, die Satzzeichen nicht eingerechnet. Das sei eine Alphabetschnur, die etwa einen Kilometer lang wäre. Für einen Pfennig bekäme man also eintausendfünfhundert gemischte Buchstaben. Und für einen Pfandbrief (für die jüngeren Leser: ein festverzinsliches Wertpapier) im Wert von einhundert Mark bekäme man im Jahr 6,50 DM Zinsen – genug also für ein weiteres Taschenbuch.
Donnerwetter, denke ich. 1989 hat man also noch 6,5 Prozent Zinsen bekommen. Das sind genau 6,5 Prozent mehr als heute, da man die Sparer an den Aktienmarkt nötigt und aus dem Wohnungsmarkt eine Spielhölle für Spekulanten gemacht hat. Und als ich über die vergangenen Zeiten, die junge Dame namens A. und das Geld nachdenke, fällt mir wieder meine kleine quietscheentchengelbe Börse mit Minnie Maus-Motiv und Clipverschluss ein, in der ich damals – zur hellen Freude meines gesamten Freundeskreises – mein Kleingeld aufbewahrt habe.
„Und dann, ungefähr mit vierzig, geben sie ihren kleinen Verbohrtheiten und ein paar Sprichwörtern den Namen Erfahrung, sie fangen an, Automaten zu werden: einen Groschen in den linken Schlitz, und heraus kommen in Silberpapier eingewickelte Anekdoten; einen Groschen in den rechten Schlitz, und man bekommt wertvolle Ratschläge, die zwischen den Zähnen kleben wie weiche Karamellbonbons.“
Es war in jenem denkwürdigen Jahr des Mauerfalls, als ich mit besagter A. in einem Gasthaus in Würzburg saß. In einem Augenblick hemmungsloser Trunkenheit und motivationsfreier Bewegungslust war ich einfach aufgestanden und in die Nacht hinaus getorkelt, ohne wiederzukommen. A. hatte wohl eine Weile gewartet und mich dann zu suchen begonnen. Dabei hatte ich meinen legendären Geldbeutel auf dem rustikalen Holztisch jenes fränkischen Hopfentempels liegengelassen und nie mehr wiedergesehen.
Weiß der Kuckuck, wie A. mich überhaupt wiedergefunden hatte. Jedenfalls erwachte ich am nächsten Morgen, den Kopf voller bleischwerer Erinnerungslücken, in ihrer Wohnung. Noch bei ihrer Hochzeit mit einem Exemplar Mann, das eindeutig berechenbarer und verlässlicher war als ich, fragte sie mich – wohl zum tausendsten Mal –, wo um Himmels Willen ich in dieser Nacht eigentlich hin wollte. Ich weiß es bis heute selbst nicht. Manchmal müssen sich Männer einfach auf den Weg machen. Ohne Grund. Ohne festen Boden unter den Füßen. Vielleicht ist das sogar die wesentliche Voraussetzung für den Beginn einer langen Reise. Die Bedeutung von Begründungen wird doch allgemein überschätzt.
„So ist sie, die Zeit, die nackte Zeit, das kommt langsam zur Existenz, das lässt auf sich warten, und wenn es kommt, ist man angeekelt, weil man merkt, dass es schon lange da war.“
P.S.: Alle Zitate sind aus „Der Ekel“ von Jean-Paul Sartre. Ursprünglich sollte der Roman „Melancholia“ heißen, aber der Verleger hatte diesen Titel abgelehnt. Übrigens habe ich bei meiner ersten Lektüre als junger Mann nur einen einzigen Satz unterstrichen: „Alles Existierende entsteht ohne Grund, setzt sich aus Schwäche fort und stirbt durch Zufall.“
Bei meiner zweiten Lektüre, in meinem fünfzigsten Lebensjahr, hätte ich – würde ich immer noch Anmerkungen und Unterstreichungen hinterlassen - folgende Textstellen am Ende des Romans angestrichen:
„Ich weiß ganz genau, dass ich nichts tun will: etwas tun heißt Existenz schaffen – und es gibt so schon genug Existenz. Die Wahrheit ist, dass ich meine Feder nicht loslassen kann: ich glaube, dass ich den Ekel bekommen werde, und habe den Eindruck, ihn aufzuschieben, in dem ich schreibe. Also schreibe ich, was mir durch den Kopf geht. (…) Man kann seine Existenz also rechtfertigen? Ein ganz klein wenig? (…) Es müsste ein Buch sein: ich verstehe mich auf nichts anderes. (…) Und es gäbe Leute, die diesen Roman läsen und die sagen würden: ‚Antoine Roquentin hat ihn geschrieben, das war ein rothaariger Typ, der in den Cafés herumhing‘.“
Heute lese ich das Buch und muss an mich selbst denken, so wie A. 1989 an mich gedacht hat. Ich bin dem Protagonisten, den ich längst vergessen zu haben glaubte, sehr ähnlich geworden. Eine Prophezeiung als Geschenk, das Geschenk der Prophezeiung. In ein paar Tagen sehe ich A. wieder. Ich werde ihr diese kleine Geschichte erzählen und ich bin mir sicher, dass wir darüber lachen werden.
P.P.S.: Ich habe A. heute (30. März) im Mr. Minsch in der Yorckstraße getroffen und wir haben bei Kaffee und Kuchen über diverse Bücher gesprochen. Als sie mir Sartre geschenkt hat, habe ich ihr „Portnoys Beschwerden“ von Philip Roth geschenkt. Und wie es der Zufall will: Gestern und heute habe ich genau diese wundervolle Groteske um Sex, Judentum und Wahnsinn in New York zum dritten Mal gelesen.
Queen - Now I'm Here. https://www.youtube.com/watch?v=3OSd17ko3O4
Eine sehr hübsche kleine Geschichte.
AntwortenLöschenZu Deiner Beruhigung: Deinen Lesern genügt durchaus, was Dir durch den Kopf in die internette Feder fließt. Das mit der Rechtfertigung des grundlos Existenten, forget it.
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