Freitag, 18. April 2014

Wir im Westen, die im Osten

Zum fünfundzwanzigsten Jubiläum des Mauerfalls wird es wieder jede Menge Ost-West-Vergleiche geben, die nach dem schlichten Schwarz-Weiß-Muster laufen: Der Westen war gut, der Osten war schlecht – schön, dass der Westen „gewonnen“ hat. Aber meine Erfahrung ist eine andere und sie ist geprägt von vielen Grautönen. Ich fand in den achtziger Jahren den Westen und den Osten gleichermaßen beschissen, aber der Westen war eben die bunt lackierte Scheiße und der Osten einfach nur unglaublich deprimierend.
Fangen wir mit dem Westen an. Ich habe 1985 den Kriegsdienst verweigert und hatte das Glück, nur ein schriftliches Verfahren durchlaufen zu müssen. Bis Ende 1984 gab es noch mündliche Verhandlungen. Ich habe es mir von Leuten erzählen lassen, die vor dieser staatlichen Kommission zur „Gewissensprüfung“ (so hieß das wirklich) stehen mussten. Das zuständige Kreiswehrersatzamt stellte eine Art rhetorisches Erschießungskommando aus Bundeswehroffizieren zusammen, das die pazifistische Gesinnung der Kriegsdienstverweigerer überprüfen sollte. Da wurde man zum Beispiel gefragt, ob man denn tatenlos zusehen wolle, wenn ein russischer Soldat die eigene Freundin, die eigene Schwester oder die eigene Mutter vergewaltigt. Wer diese Frage mit „Nein“ beantwortet hat, war durchgefallen und musste in die Kaserne. Damals gab es Betriebe, die Kriegsdienstverweigern keine Lehrstelle gegeben haben. Man wurde bestenfalls als „Drückeberger“ und schlimmstenfalls als „Fünfte Kolonne Moskaus“ beschimpft, wenn man im Krankenhaus oder für die Kirche gearbeitet hat. In dieser Zeit gab es in der DDR „Wehrkundeunterricht“, um die Kinder auf den nächsten Krieg vorzubereiten. Die Hardliner in der CDU forderten ein solches Unterrichtsfach auch bei uns im Westen. Die kapitalistische Propaganda, mit der wir täglich zugemüllt wurden, war unerträglich. Money talks – people listen. „Trink Coca-Cola!“
Auf der Suche nach einer Alternative habe ich die Welt jenseits des „eisernen Vorhang“ bereist: 1984 die Sowjetunion, 1986/87 dreimal die Tschechoslowakei und noch vor dem Mauerfall war ich auch in Ungarn, Polen und der DDR. Eine graue, tote Welt. Wer jemals einen sowjetischen Supermarkt betreten hat, weiß was ich meine. Leere Regale, alle paar Meter mal einige Gläser mit Rote Beete oder Gemüsekonserven. Trostloses Brot, fettige Wurst. An der Kasse wurde noch mit einem Abakus gerechnet, da wurden bunte Kugeln auf Schnüren hin und her geschoben, um auf die Endsumme zu kommen. Eine endlose Menschenschlange vor dem einzigen Burger-Laden der Stadt – und die Hamburger waren so gnadenlos beschissen, dass du Ronald McDonald auf Knien für einen BigMäc gedankt hättest. Aber die Menschen waren wie ich auf der Suche nach einer Alternative. Moskauer Jugendliche baten mich um eine Malboro und als ich ihnen die Packung hingehalten habe, nahmen sie gleich mehrere und steckten sie vorsichtig ein. Wahrscheinlich haben sie dieses kostbare Rauchwerk aus dem güldenen Westen für einen besonderen Augenblick aufheben wollen. In Leningrad (heute Petersburg) habe ich an einer Straßenecke auf meine Freunde gewartet, da hat sich eine Menschentraube um mich gebildet. Alle wollten mir meine schicke Jacke abkaufen, weil es so etwas im Osten nicht gab. Der Höchstpreis war ein durchschnittlicher Monatslohn plus Ersatzjacke. Die Situation, die mich am meisten deprimiert hat, war das Warten in einer Schlange vor einem Kiosk in Prag. Einige Meter vor mir brach eine alte Frau mit Kopftuch und langem Mantel plötzlich zusammen und blieb regungslos liegen. Niemand half ihr. Nach einer Weile war mir klar, dass sie tot sein musste. Ich habe im Zivildienst genug Tote gesehen. Schließlich hat jemand ihr Gesicht mit einer alten Zeitung bedeckt. Als ich mit meinem Suff und meinen Kippen zurück zum Wagen ging, lag sie immer noch da. Da wurde mir klar, dass der Osten genauso beschissen wie der Westen ist. Und die sozialistische Propaganda war tatsächlich noch unerträglicher, noch primitiver und noch hässlicher als unsere. „Der Sozialismus wird siegen!“
P.S.: Den Analogismus zur aktuellen Situation überlasse ich der hochgeschätzten Leserschaft.
Musik: “Twin Peaks Theme” von Angelo Badalamenti. http://www.youtube.com/watch?v=pXrjMaVoTy0

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