Dienstag, 15. April 2014
Rätselhafte Sammlungen
In den neunziger Jahren habe ich zwei Sammlungen angelegt, deren tieferer Sinn sich mir heute nicht mehr so recht erschließen will: Tiefkühlpizzaverpackungen und Kassenbons von Supermärkten. Es handelt sich bei der erstgenannten Sammlung um etwa fünfzig gut erhaltene Kartons, von denen ich jeweils die Oberseite behalten habe. Es fällt, im Vergleich zu heutigen Pizzaverpackungen, zunächst auf, dass die „Cover“ wesentlich schlichter und optisch nicht so überladen wirken. Das Auge wird nicht durch Firlefanz wie „neu“, „Special Edition“, „Reise nach Australien zu gewinnen“ oder „Nur für kurze Zeit“ abgelenkt, sondern ruht auf der geradezu landschaftsartig dargebotenen Vielfalt an Formen und Farben auf der Oberfläche des eigentlichen Produkts. Beim Blättern durch das Album sehe ich, wie die Firma Wagner sich marketingtechnisch weiterentwickelt hat, ich treffe auf untergegangene Marken und erinnere mich beim Betrachten der abgebildeten Teigfladen sogar an meine Lieblinge zurück: Die Tiefkühlpizzas („Pizze“ für Leute, die auf der Toilette nicht scheißen, sondern defäkieren) von Feinkost Käfer, die es damals nur im KaDeWe zu kaufen gab. Das war geschmacklich immerhin untere Restaurantqualität, die Preise waren aber auch dementsprechend.
Ebenso aufschlussreich für meine Ernährung als Student sind die gesammelten Kassenbons, die ich in ein großes rotes Notizbuch geklebt habe. Die lila Tinte ist verblasst und offenbar wurde damals noch mit Nadeldruckern gearbeitet. Anscheinend habe ich mich fast ausschließlich von Aldi und Penny verköstigen lassen. Neben dem unvermeidlichen Wein, ohne den der Rheinhesse und der Pfälzer auch in der Diaspora langfristig nicht lebensfähig sind, ist die Liste der ausgewählten Nahrungsmittel überschaubar. Wurst, Schinken, Käse, Joghurt, Bananen, Mineralwasser. Gelegentlich Hähnchenbrustfilet, Nudeln und Putzmittel. Der Wein war damals sehr günstig: Moselwein für 1,99 DM, Saulheimer Domherr (ein Liter) aus Rheinhessen für 3,29 DM, Riesling aus dem Rheingau für 4,99 DM und französischer Rotwein für 2,99 DM. Das zahlt man heute, also zwanzig Jahre später, in Euro. Sahnepudding gab es für 59 Pfennig, ein ganzes Brot für 1,59 DM. „Hohes C“: damals 1,69 DM, heute 1,79 Euro! Ein Weizenbier hat bei Penny in der Berliner Trautenaustraße am 23.1.1995 nur 79 Pfennig gekostet. Vorbei, vorbei … ich blättere die Seiten durch.
Hier ein typisches Dokument aus dieser Epoche: „Riesling 1L 4,99, Riesling 1L 4,99, Edamer 40% 2,89, Gemuesemais 0,79, Apollinaris 1,25, Champign. I. Wahl 1,49, Pizza Speciale 3,99. Summe: DM 20,39“. Den 12.10.1994 habe ich so gestaltet: „Pfaelz. Landwein 2,25, Bing. St. Rochusk. 1,79, Arg. Rindersteaks 8,98, Selters-Wasser 1,19, Erdnusslocken 2,79, Kind. Ueberraschung 0,79.” Ja, die gute alte Binger St. Rochuskapelle, beliebtes Ausflugsziel und ein Wein mit einem exzellenten Preis-Leistungsverhältnis, besonders die Auslese. Goldene Erinnerungen … Was ich an diesem Tag gemacht habe? Keine Ahnung. Dazu steht nichts im Notizbuch. Aber es gibt doch den schönen Party-Spruch: Wer sich erinnern kann, war nicht dabei. Unter dem Datum 15.10.1994 findet sich der Eintrag: „Ich weiß nicht, was ich will, aber ich weiß, was ich kriegen kann: High-Sein, Vollrausch, Samenerguss.“ Und etwas später dann der Satz: „Ich sehe mich schon mit Achtzig in einem Altersheim, wie ich – frisch gewickelt – in meinen alten Notizbüchern blättere.“ Wahre Worte … ich blättere jetzt schon und bin keine Fünfzig. Der letzte Satz des Tages muss spät in der Nacht geschrieben worden sein, denn er ist völlig kryptisch: „Die Gitterstäbe sind aus Papierschlangen, aber deine Arme sind aus Luft.“ Ich weiß selbst nicht, was es bedeuten soll. Ernstgemeinte Interpretationen bitte an „ebi41@gmx.net.“
Dazu könnte man "Waterloo Sunset" von den Kinks hören. https://www.youtube.com/watch?v=5J3gX47rHGg
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