Mittwoch, 2. April 2014

Die Freiheit der Anderen

Die Befreiung Polens vom Zarenjoch – das war ein Thema, das die Demokraten in Europa und in aller Welt im neunzehnten Jahrhundert begeistert hat. Eine tapfere, aufrechte Kulturnation – seiner Selbstbestimmung beraubt und aufgeteilt zwischen den Großmächten Preußen, Österreich und Russland. Eine solche himmelschreiende Ungerechtigkeit hat die Herzen der Jugend entflammt und den ehrlichen Bürger empört. „Noch ist Polen nicht verloren“ war ein berühmter politischer Schlager in deutschen Landen. Und kaum hatte Polen im zwanzigsten Jahrhundert seine Unabhängigkeit erreicht, marschierte die Wehrmacht auf Hitlers Befehl ein. An diesem Punkt war es mit der demokratischen Toleranz gegenüber der deutschen Expansionspolitik vorbei, Frankreich und Großbritannien erklärten dem Deutschen Reich den Krieg – der zweite Weltkrieg begann um der polnischen Freiheit willen. 1980 waren wir auf dem dritten Höhepunkt der Polenbegeisterung. Lech Walesa kämpfte mit seiner Gewerkschaftsbewegung gegen die kommunistische Unterdrückung. Es drohte der Einmarsch der roten Armee, die polnische Bevölkerung reagierte mit Streiks und besetzte die Betriebe. Die Sowjetunion wurde von Ronald Reagan zum „Evil Empire“ („Reich des Bösen“) erklärt und „der Russe“ war das Feindbild meiner Jugend. Wer damals den Kriegsdienst verweigert hat, wurde von der zuständigen Kommission für staatliche "Gewissensprüfung" gefragt, ob er denn tatenlos zusehen wolle, „wenn der Russe kommt“. Der Russe kam nie, aus dem Kalten Krieg wurde kein dritter Weltkrieg und die Polen haben sich mit den ersten freien Wahlen im damaligen „Ostblock“ im Juni 1989 selbst befreit.
Heute habe ich den Eindruck, die Ukraine sei das neue Polen. Viele im Westen, vor allem die Medien in seltener Eintracht, sehen eine tapfere Nation vom Neo-Zarismus bedroht. Sie sehen ein Volk, das einen heroischen Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit gegen die finsteren Unterdrücker aus Moskau führt – schon wieder steckt der Kreml dahinter. Kennt man doch! Die Ukraine bietet eine herrliche Projektionsfläche für den Idealismus zahlreicher Verbalethiker, die sich in einem Land, von dem sie nicht viel wissen, eine Art Marienerscheinung ihrer tief empfundenen Vorstellung von einer besseren Welt erhoffen: Demokratie, Menschenrechte, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, am besten gleich noch Umweltschutz, Frauenquote und Mindestlohn. Und am Ende bekommen die Ukrainer, was auch die Polen letztlich von uns bekommen haben: Coca-Cola und Nutella, Apple und BMW, Hollywood und RTL, F-16-Bomber und Leopard 2-Panzer. Aber Hauptsache, wir haben wieder ein neues Feindbild, nachdem der islamistische Terror in den vergangenen dreizehn Jahren nach 9/11 trotz medialer Dauerpropaganda in Deutschland noch kein einziges Todesopfer gefordert hat. Gestern war ein Freund mit seinem Sohn im Kino, um sich den neuesten Superhelden-Action-Kracher aus den USA anzusehen. Ich habe nur gefragt, ob die Bösewichter im Film Moslems oder Russen wären. Seine Antwort: „Russen“.

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