Montag, 11. Januar 2016

Scripted Phantasy: Der Fall des schwarzen Usambaraveilchens

"Die Kunst ist lang! Und kurz ist unser Leben." (Goethe: Faust I)
Ich sah nur seine Silhouette in der bernsteinfarbenen Dämmerung der Bibliothek, aber ich hätte diesen Schattenriss unter einer Million Schattenrissen erkannt.
„Zeit zu sterben“.
Seine hässliche, kalte Stimme.
Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem ich sie das erste Mal gehört hatte. Der Fall Vernon Blackthorne. Ein Bewährungshelfer, der spurlos verschwunden war. Zehn Jahre war das jetzt her. Der Fall wurde nie gelöst, die Spuren waren längst kalt geworden. Ich war bei den Recherchen zu meinem Roman „Die goldene Totenglocke” auf Blackthorne und seine Geschichte gestoßen. Und weil ich nicht aufhören konnte, Fragen zu stellen, traf ich eines Tages McFish. Dillinger McFish. Aber ich erzähle Ihnen die Geschichte schön der Reihe nach.
Es geschah in einer Nacht, an die sich keiner mehr erinnern konnte. Vor langer, langer Zeit. Aus dem runzligen Mondauge war kaltes Licht auf die Leiche von Vernon Blackthorne gefallen, die in einem offenen Müllcontainer auf der Rückseite eines Schnellrestaurants in Downers Grove lag. Blackthorne arbeitete als Bewährungshelfer und nach Aussage des Arztes, der die Leichenschau durchgeführt hatte, war er bereits 36 Stunden tot, als man ihm den Eispickel aus dem Schädel zog. Hätten ein paar Studenten nicht den Container nach Essbarem durchsucht, wäre er unter dem Müll vielleicht nie gefunden worden. Aber einer von diesen Jungs hatte der Polizei einen anonymen Tipp gegeben.
Der Fall wurde nie aufgeklärt. Ich hatte mir alle Informationen im Internet zusammengesucht und beschloss, Blackthornes Nachfolger zu besuchen. Die Ermittlungen waren damals ziemlich schnell eingestellt worden und der Fall war nach wenigen Tagen aus der Presse verschwunden gewesen. Das schmeckte mir nicht. Bewährungshelfer haben es immer mit Verbrechern zu tun. Vielleicht war einer seiner Ex-Cons, die er betreute, der Täter. Und ich durfte mir von einem solchen Besuch wenigstens ein paar Anregungen für meine Arbeit als Krimi-Autor erhoffen.
Cornel Shoemaker trug einen grauen Anzug, eine schwarze Hornbrille und sein Haar musste er schon vor langer Zeit verloren haben. Das Gespräch war sehr kurz, kürzer als das Gespräch mit seiner Sekretärin, der ich meinen Wunsch geschildert hatte. Shoemaker sagte mir, er könne mir keine Informationen über seinen Vorgänger und die Fälle geben, die er bearbeitet hatte. Aber als ich das Büro verließ und durch das Vorzimmer ging, gab mir die Sekretärin einen Zettel. „Zwölf Uhr. Lakewood Diner.“
Ich saß bei einer miesen Tasse Kaffee, als sie erschien. Sie setzte sich wortlos zu mir und bestellte einen teuren Cocktail bei der Kellnerin, die gelangweilt hinter dem Tresen Kaugummi kaute. Dann fragte sie mich, wieviel ich wissen wolle. Ich legte einen Fünfzig-Dollar-Schein auf den Tisch und sagte: „Etwa so viel.“ Sie erzählte mir, dass Cornel Shoemaker ein verdammter Streber sei, den alle nur Colonel Crackerjack nannten. Die Polizei habe bei den Ermittlungen zum Tod von Vernon Blackthorne routinemäßig die Alibis von ein paar Gewaltverbrechern überprüft, die Blackthorne in der Kartei gehabt hatte, aber ich solle mir John Savage, Benson Arizona und ein Betrügerpärchen genauer anschauen: Flaky Slab und Lily Field.
Das ganze Leben ist ein verdammtes Rattenrennen und John Savage hatte es von Anfang an mit der gleichen Selbstverständlichkeit und der stoischen Ruhe eines Stundenzeigers verloren, der jeden Tag zweimal um Punkt Zwölf gegen den Minutenzeiger antritt und keine Chance hat. Savage war etwa zwei Meter groß und der typische Kneipenschläger. Ab zwo Promille hatte er eine äußerst kurze Zündschnur. Sein letzter Gegner war mit dem Hinterkopf auf dem Boden einer billigen Bar aufgeschlagen und als sabbernder Lappen wieder aufgewacht, der mit anderen sabbernden Lappen in einem Heim lebte. Inzwischen war seine Bewährung abgelaufen und er arbeitete als Türsteher in einer Striptease-Bar in Chicago.
Seine Hände waren dick und klobig, auf den ersten Blick dachte man, er hätte zehn Daumen. Sie lagen vor ihm auf dem Tisch wie schlafende Raubtiere. Er sah mich misstrauisch im trüben Licht der Bar an, die um diese Uhrzeit fast menschenleer war. „Ich habe voll bezahlt. Glauben Sie mir.“ Ich konnte mit diesen Worten nicht viel anfangen. Aber je länger ich zuhörte, desto mehr begriff ich. Blackthorne hatte mit seinen Schäfchen einen schlichten, aber einträglichen Deal abgemacht: Sie konnten weiter ihren Geschäften nachgehen, mussten aber an ihn bezahlen. Diese Informationen hatten mich zweihundert Piepen und Savage einen Blick auf meinen gefälschten Presseausweis gekostet, den ich mir für Gelegenheiten wie diese vor einigen Jahren zusammengebastelt hatte. Harry Deer vom Miami Observer. Aber niemand hat je darüber gelacht.
Benson Arizona lebte in einem Trailerpark am Rande der Wüste. Bis in diesen Blechkanister mit Stromanschluss hatte ihn seine Spielsucht gebracht. Sportwetten, Glücksspielautomaten, Rubbellose. Er hatte seit zwanzig Jahre eine zuverlässige Pechsträhne. Ein blinder Pokerspieler hätte es nicht besser machen können. Wir saßen an seinem Tisch und er hatte sich seine verblichene rote Mütze weit ins Genick geschoben, um sich am Kopf zu kratzen. Wie die meisten Baseballmützenträger auf dieser großen Welt hatte er noch nie Baseball gespielt. Aber es wäre mit dem Holzbein auch schwer gewesen. Eine Sprengfalle hatte ihn im Irak erwischt, als er für Uncle Sam seine erste Auslandsreise gemacht hatte. Bei ihm genügten ein Zwanziger und die Andeutung, dass ich seinen Deal mit dem Bewährungshelfer kannte. Er hatte sicher gerade mal wieder eine Tankstelle überfallen, um seine Spielschulden zu begleichen – seine alte Masche -, und konnte sich keinen Ärger leisten. Ein Jäger kann so oft verlieren, wie er will. Ein Gejagter verliert genau zwei Mal: ein erstes und ein letztes Mal. In Arizonas schmierigem und klebrigem Trailer hörte ich das erste Mal den Namen von Dillinger McFish.
Flaky Slab sah mich mit großen, flehenden Augen an wie ein Hund, den man vor zwei Tagen an einer Autobahnraststätte angebunden hatte. Aber die Nummer zog bei mir nicht. Dillinger McFish war der Schlüssel. Ich wusste es und er wusste irgendwann, dass ich es wusste. Obwohl ich nur bluffte. Aber es genügte, ihm zwei Karten von meinem Blatt offen zu zeigen, um ihm vor dem Rest eine Heidenangst einzuflößen. Flaky war ein kleiner Abzocker. Zusammen mit seiner Freundin Dinah Mite (die eigentlich Lily Field hieß), die das treudoofe Dummchen noch nicht einmal spielen musste, wenn sie mit ihrer Masche wieder gutgläubige Rentner um ein paar Scheinchen erleichterten, schaffte er es gerade so, um in einer miesen Absteige über die Runden zu kommen. Stapelweise Lieferpizza und leere Bierdosen, so weit das Auge reicht – Erfolg sieht anders aus. Von der Sekretärin wusste ich, dass er wieder auf Bewährung war. Also musste ich ihm nur sagen, dass er Dillinger McFish Geld schuldete, um ihn zum Reden zu bringen. McFish war der Sheriff von Downers Grove. Er kassierte ebenfalls seine Prozente und sorgte dafür, dass die Raubzüge von Blackthornes Ex-Cons nicht aufgeklärt wurden. Er schickte seine Streifenwagen zur Tatzeit irgendwo anders hin und leitete anschließend selbst die Ermittlungen.
Ich saß mit einer Zeitung, Kaffee, Rührei und Bacon im Cloudland Diner, First Avenue Ecke Invincible, als ich McFish zum ersten Mal traf. Ich hatte gerade gelesen, dass man Benson Arizona tot in seinem Trailer aufgefunden hatte. Auf dem Tisch Spielkarten, auf seiner Stirn ein hässliches Loch. Ein Mord im Zockermilieu. Und in der Striptease-Bar, in der Savage arbeitete, hatte es eine große Razzia gegeben.
„Habe gehört, Sie interessieren sich für Vernon Blackthorne“, sagte er, während er sich an meinen Tisch setzte.
„Ich interessiere mich für ungelöste Fälle.“ Ich rührte ein wenig Zucker in meinen Kaffee.
„Für wen arbeiten Sie?“
„Wer will das wissen?“
Er grinste. „Wollen Sie meinen Dienstausweis sehen? Dann plaudern wir in meinem Büro weiter.“
„Ich arbeite für niemanden.“
„Dachte ich’s mir doch“, sagte er und lehnte sich zufrieden zurück. „Sie sehen nicht aus wie jemand von der Zeitung. Miami Scheißdochdrauf. Und die Leute von der Lokalpresse kenne ich alle persönlich.“
„Ich bin Schriftsteller. Ich suche Stoff für eine Story. Und die Story von Vernon Blackthorne gefällt mir ziemlich gut.“
Er beugte sich nach vorne und seine Stimme bekam einen drohenden Unterton. „An Ihrer Stelle würde ich mir eine andere Story und eine andere Stadt suchen. Wäre schade, wenn ich noch deutlicher werden müsste.“
Dann stand er auf und ging, ohne meine Antwort abzuwarten.
Ich sah, dass er am Hinterkopf eine kreisrunde kahle Stelle hatte, die durch sein graues Haar schimmerte wie der Mond durch eine Nebelbank.
Einige Tage später ging ich in die Bibliothek, um meine Recherchen für die Blackthorne-Geschichte fortzusetzen.
Und jetzt stand Dillinger McFish vor mir. Mit einem Dolch in der Hand.
Ich wollte noch etwas sagen, aber es war, als hätte ich den ganzen Mund voller Staub.
Zum Tod von David Bowie: Absolute Beginners. https://www.youtube.com/watch?v=MhVkGtDGy5s

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