„Wer es schafft, in seinem Leben auch nur einem einzigen Menschen zu seinem Glück zu verhelfen, der gewinnt zugleich sein eigenes Glück.“ (Yasunari Kawabata: Der Blinde und das Mädchen)
Nichts ist deutscher als eine Sandburg. Eine Sandburg im Wortsinne, nicht nach Art der Kinder. Ich spreche von Wall und Schützengraben. Nach alter Landsermanier gruben unsere Väter am ersten Urlaubstag eine Stellung in den Strand, die nur von Blutsverwandten betreten werden durfte. Ich habe so etwas nirgendwo sonst auf der Welt gesehen. Zum Glück haben sich die Generationen, die nach dem Krieg geboren wurden, dieses merkwürdige, zwanghafte und gruselige Verhalten Ende des vergangenen Jahrhunderts abgewöhnt.
Penner und Kriminelle waren die Helden meiner Kindheit: Ein Monster namens Oskar, das in einer Mülltonne in der Sesamstraße lebte, und ein Typ mit sieben Messern, einem Säbel und einer Pfefferpistole, der die Kaffeemühle irgendeiner Oma klauen wollte, Räuber Hotzenplotz genannt.
1979 bekam ich eine Quarzuhr zum Geburtstag. Die Zeit wurde von eckigen schwarzen Stäbchen auf einem grauen Hintergrund angezeigt. Die Uhr hatte sogar eine Stoppuhrfunktion, mit der man die Zeit auf die Hundertstelsekunde genau bestimmen konnte. Damals galt man schon als Nonkonformist, wenn man die Uhr am rechten Handgelenk trug.
Idiotischerweise kann ich mich noch an meine erste Kiwi erinnern. Meine Mutter hatte die pelzige Frucht aus dem Supermarkt mitgebracht. Drei Stück für je eine Mark. Eine für mich, eine für meine Schwester, eine für sie selbst. Wir wussten gar nicht, wie man sie isst. Zuerst haben wir versucht, sie zu schälen wie eine Mandarine. Aber der Pelz war sehr dünn. Dann haben wir sie in der Mitte durchgeschnitten und ausgelöffelt wie ein gekochtes Ei. Die Kiwi schmeckte sauer und nach Stachelbeeren. Wir fanden sie alle nicht gut, teuer war sie auch noch. Damals, in den späten Siebzigern, hat man für eine Mark noch eine Portion Pommes frites bekommen. Wir haben nie wieder Kiwis gekauft.
Meine Großmutter lebte ganz in der Nähe des Gefängnisses in Diez. Wir spazierten oft an der hohen Gefängnismauer vorbei. Ich hörte die Stimmen der Männer, die durch diese Mauer vom Rest der Gesellschaft getrennt waren. Meine Großmutter erzählte mir, dass diese Menschen böse seien. Ich konnte sie nicht sehen, aber ich hörte sie und manchmal lachten sie hinter der Mauer. Für mich war der Weg immer aufregend und ich stellte mir vor, wie einer der Männer über die Mauer und den Stacheldraht floh und sich zwischen den umliegenden Häusern versteckte, während ihn die Polizei mit Hunden suchte.
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Die Fahrt zur Klinik. Er sah wehmütig aus dem Fenster. Es war nichts Besonderes zu sehen, nur Felder und Wiesen. Aber er würde sie für lange Zeit nicht mehr sehen können und jeder Augenblick erschien ihm kostbar. Es war, als würde er nie wieder diese Straße entlang fahren. Als wäre es ein Abschied für immer. Und er versuchte, sich die Bilder einzuprägen. Der Mann erinnerte er sich wieder an eine Szene aus einer Tier-Doku. Ein Adler hatte einen Fuchs gepackt, der einen langen klagenden Heulton ausstieß. Und er hatte das Gefühl, es sei weniger der Schmerz, den die rasiermesserscharfen Krallen in dessen Rücken verursachten, sondern die plötzliche Erkenntnis, dass das Leben in diesem Augenblick vorbei war, die den Fuchs aufheulen ließ.
Dann erinnerte er sich an ein altes Schwarz-Weiß-Foto, das er einmal in einer Illustrierten in den frühen achtziger Jahren gesehen hatte. Vor einem Modegeschäft in Paris steht eine kleinwüchsige, völlig verwachsene, bucklige Frau in einem dunklen Regenmantel und schaut zum Schaufenster empor, in dem ein wunderschönes Hochzeitskleid ausgestellt ist. Sie wird es nie tragen, weil es viel zu lang und viel zu teuer ist. Er sah ihr Gesicht nicht, er sah nur ihren Rücken. Und in diesem Augenblick, in dem sie sehnsüchtig hinauf schaut ins gleisende Glück dieses prachtvollen, unerreichbaren, weißen Kleids, ist so viel Größe, Würde und Kraft, dass er auch jetzt wieder Tränen in den Augen hatte.
P.S.: „Luftmensch“ ist ein Begriff aus der jiddischen Sprache und bedeutet: träumerische Person, die keinen Beruf hat und kein Geschäft oder Einkommen besitzt.
Oskar – Ich mag Müll. https://www.youtube.com/watch?v=HoYuuWdD3aY
Hübsche Miniaturen über - heute würde man sagen - Lebensstationen eines Hochsensiblen.
AntwortenLöschenFein! Meine Oma und ich haben auch mal versucht eime Kiwi zu schälen, wir wussten auch nicht wie man das isst.
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