„‘Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum‘ ist das Billy-Regal unter den Lebensmottos.“ (Barbara)
Eines Tages folge ich dem Rheinstrand, bis die Stadt hinter mir liegt. Am Ufer stehen einige einfache Hütten. Hier leben die Aussteiger, hat mir der Hotelportier erklärt. Dürre und langmähnige Fürsten der Selbstgerechtigkeit, deren Broterwerb mir verborgen geblieben ist. Was machen sie in dieser Einöde? Haben sie ausgerechnet hier ihren Traum verwirklicht? Was sind das für Träume, die Wirklichkeit werden können? Ein Paradoxon. Um zu träumen, muss man schlafen. Oder haben sie hier die Suche aufgegeben? Ist an diesem Ort ihre faustische Unruhe erloschen und sie haben sich einfach niedergelassen?
Ich beginne, die Menschen zu mögen, die mich bei jeder Gelegenheit übers Ohr hauen. Inzwischen kenne ich die Stadt und weiß, um wie viele Ecken mich der Taxifahrer damals chauffiert hat, bis wir endlich vor dem Hotel standen. Im Restaurant bekomme ich ein anderes Essen, weil man nicht zugeben will, dass man die Zutaten für das bestellte Gericht gerade nicht vorrätig hat. Dafür ist die Rechnung zu hoch. Ich bestelle einen bestimmten Schnaps nach dem Essen und sehe aus den Augenwinkeln, wie ein Bursche aus dem Restaurant in einen Laden geschickt wird, um die entsprechende Flasche zu besorgen. Es ist ein rührender, kindlicher Dilettantismus, eine liebenswerte Mogelei, die mich nicht schmerzt.
Die wenigen Autos, die ich sehe, sind rollende Diskotheken. Junge Leute, die wie die Henker fahren. Die Fahrräder haben kein Licht, Verkehrszeichen gibt es keine und die alte Trennung von Bürgersteig und Straße nimmt keiner ernst. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind auf geradezu boshafte Weise unpünktlich. Fahrpläne haben an den Haltestellen nur dekorativen Charakter. Nach kurzer Zeit habe ich mich auf ein Leben als Flaneur beschränkt. Ich habe Zeit. Es ist viel angenehmer, die Stadt zu Fuß zu erkunden. Überall, wo es Schatten gibt, stehen die Leute, schwatzen und lachen.
Die Frauen. Lange, glutäugige Blicke. Oft von ganz jungen Mädchen. Augenzwinkern, Lächeln, ein lockender Zeigefinger. Sie spielen mit dem Fremden. Es geschieht nicht oft, aber doch fast jeden Tag. Stumme Aufforderungen, denen ich ausweiche. Einmal hat sich eine langmähnige, prachtärschige und überhaupt kurvenreiche Schönheit am Rheinufer auf meinen Schoß gesetzt, von dem ich sie allerdings sofort wieder vertrieb. Andere Frauen wiederum gehen nur mit gesenktem Blick und in langen Mänteln durch die Stadt, obwohl die Sonne vom Himmel brennt, dass ich mir den Schweiß von der Stirn schüttele wie ein Hund, der gerade aus dem Wasser kommt.
In den Abendstunden stehen die Straßen der Innenstadt voller Tische und Stühle. Ich höre Trommeln, überall ist Musik. Der Abend ist der Höhepunkt des täglichen Lebens. Alle sind unterwegs, ganze Horden junger Menschen ziehen durch die Straßen, sie lachen aufgeregt und zeigen mit ihren Fingern auf alles, was sie sehen. Sie sind schön und ich betrachte sie, bis meine Augen müde werden von so viel Schönheit und Jugend. Wenn ich wüsste, wie es geht, würde ich jeden Abend einem Dutzend schöner Frauen mein Leben schenken. Wer ist um diese Uhrzeit überhaupt noch in den Häusern? Ein paar alte Menschen vielleicht. Aber selbst sie lehnen sich auf ihre Fensterbänke und sehen lächelnd herab auf das bunte Treiben und die glitzernden Lichter.
Kraftraubend sind an diesen Abenden nur die Abwehrgefechte gegen die Straßenhändler. Vor allem die Kinder sind nicht auszuhalten. Die Jungs sind frech und klopfen, selbst während ich esse, auf meine Schulter oder meinen Unterarm, ewig schwatzend und durch mehrfache Wiederholung dieses Rituals in kurzen Abständen von ausgesuchter Bösartigkeit. Die Mädchen sind ganz anders: leise bittend, beschwörend, manche Achtjährige legt einfach den Arm um mich und küsst mich auf die Wange, um mich zum Kauf von Nüssen oder Papiertütchen mit geheimnisvollem Inhalt zu bewegen. Ich weise sie freundlich ab, tausendfach, um ich merke, wie es mich ermüdet. In diesen Augenblicken ist meine Einsamkeit zugleich auch eine Schwäche.
Einmal habe ich eine junge Frau zum Essen eingeladen. Sie hieß Simone. Ich hätte sie höchstens für zwanzig gehalten, aber sie war fünfundzwanzig und hatte drei Kinder. Mit sechzehn hatte sie geheiratet. Wir waren noch in einer Bar tanzen, dann verabschiedeten wir uns voneinander. Das kurze Glück des Gefundenwerdens. Ich erinnere mich noch, dass alle Frauen in dieser Bar ihre Schuhe zum Tanzen ausgezogen haben. Sie bewegte sich mit großem Ernst und abwesendem Blick über die Tanzfläche, während ich mir wie ein Idiot vorkam, weil ich ihren Bewegungen nicht folgen konnte.
Es ist Mitternacht, das Licht in meinem Hotelzimmer erlischt. Ich schließe das Notizbuch. Der fauchende Generator gibt endlich Ruhe. Die Marktbuden unter meinem Fenster haben längst geschlossen. Die ganze Stadt ist in Dunkelheit getaucht. Ich trinke den letzten Schluck Wein in meinem Glas und lege mich aufs Bett. Ich könnte eine Kerze anzünden, aber ich habe mich an den Rhythmus der Stadt gewöhnt. Ich lege mich schlafen, wenn sie es tut. Ich wache auf, wenn sie erwacht.
Ich denke über meine Notizen nach. Überall stößt das Land der Sprache an Grenzen und sein Gegenreich ist mit dem Begriff Schweigen nur unzureichend umschrieben. Die anderen Länder heißen Enttäuschung, Melancholie, Erkenntnis, Zorn und Verständnis. Ab einem gewissen Moment können Empfindungen nicht mehr ausgedrückt, Verzweiflung nicht mehr beschrieben und Einsicht nicht mehr vermittelt werden. Und damit ist auch dieser kleine Gedanke schon an sein Ende gelangt und wird von neuen Bildern und Ideen fortgespült.
Und trotzdem ist jede dieser kleinen Erinnerungen ein wertvoller Schatz und zugleich eine geheime Quelle, aus der ich ewig schöpfen möchte. Duisburg hat mich auf eine Weise verzaubert, die schwer zu beschreiben ist. Die Stadt nimmt dir jeden Tag ein Stück deiner Energie, aber sie lässt dich auch neue Lebenskraft schürfen wie Gold.
Wann werde ich wieder nach Hause fahren? „Nach Hause“ – Was ist das, wo ist das? Ich kann nicht für immer in Duisburg bleiben. Und trotzdem habe ich das Gefühl, den Zeitpunkt für eine Rückkehr bereits verpasst zu haben. Es ist, als bildeten das Alte und das Neue zwei Waagschalen, die sich genau in diesem Augenblick in einer perfekten Balance befänden.
Weekend - Coma Summer. https://www.youtube.com/watch?v=c99SZIiOrG4
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