Donnerstag, 17. September 2015

Der fabelhafte Sommer 1985

„Come sail your ships around me / And burn your bridges down” (Nick Cave & The Bad Seeds - The Ship Song)
In diesem beschissenen Notizbuch aus DDR-Papier, das wahrscheinlich (ach, was sage ich – sicherlich!) später einmal in meinen Pfoten zu Staub zerfallen wird, möchte ich doch noch ein paar Ereignisse der letzten Monate festhalten, bevor sie endgültig in Vergessenheit geraten oder in sentimentaler Verklärung zu Legenden und erlogenen Anekdoten werden, die man sich auf irgendwelchen Jahrgangstreffen in tausend Jahren ins Gesicht langweilt.
Heute ist der 28.6.1985, ich liege immer noch im Bett (es ist 15:30 Uhr), Frank Zappa gibt mir moralische Unterstützung und ich versuche anhand eines Terminkalenders die letzten gottverdammten zwei Monate zu rekonstruieren. Dafür habe ich jetzt genügend Zeit, da die Schule endgültig aus ist und ich demnächst erstmal als Arbeitsloser rumhänge.
1. Mai: Die letzten zwei Wochen waren ruhig. Große Exzesse konnte ich mir ja auch nicht leisten, Lernen fürs schriftliche Abi war angesagt. Dieses „einen-Gang-zurückschalten“ wegen der Schule hat mich bis zur Weißglut geärgert. Aber nach dem Abi würde ich gepflegt die Sau rauslassen, das hatte ich mir geschworen. Selbst D. hatte viel zu wenig Zeit für mich, sie macht sich mit ihrem Stress total fertig. Und ich musste einige geile Kiff-Orgien in Schweppenhausen, meinem Elfenbeinturm, auslassen. Auch M.s gutgemeinten Rat, vor der Prüfung Captagon zu schlucken, musste ich leider ablehnen. Abends war ich aber doch mit ihm einen trinken. Ich kam erst nachts aus der Dorfkneipe und erklärte meinem alten Herrn mit schwerer Zunge, dass ja alles kein Problem wäre.
2. Mai: Deutsch-Abi. Über mein Spezialgebiet Kafka. Zehn Punkte.
3. Mai: Englisch-Abi. In der Beurteilung steht, ich hätte an der „Zielsprache“ vorbeigeschrieben. Fünf Punkte. Danke, Frau Schmitt – und tschüss!
6. Mai: Sozialkunde-Abi. Die Beurteilung ist allererste Sahne, ein einziger Lobgesang. Dreizehn Punkte. Nach der Prüfung traf sich der Jahrgang zu einem üblen Besäufnis am Ausgang. Fliegende Sektkorken, eilig im HL eingekaufte Sixpacks usw. Am Nachmittag war ich bei N., mit dem ich zwei geile Artikel für die Abi-Zeitung geschrieben habe, von denen später noch die Rede sein wird. Natürlich haben wir uns die Rübe vollgegossen. Abends ging ich mit D. zur Abi-Feier eines Mitschülers. Da ging's dann nur noch ab. Ich gab mir mit Baccardi, Wein und Bierchen den absoluten Rest. Irgendwann gegen vier war ich zu Hause. Gong – die postabiturielle Zeit ist zünftig eröffnet! Es darf die Sau rausgelassen werden.
11. Mai: Mit D. und ein paar anderen Freunden im „Revolution“ in Simmern. Die geilste Disco, von der Musik und der Anlage her. Ich treffe J. und V. aus Schweppenhausen und wir fahren erstmal weg, um was zu quarzen. Wir parken irgendwo und wollen gerade anrauchen, da bemerken wir, dass zwanzig Meter neben uns ein anderes Auto parkt. Wir düsen also weiter und die verdammte Zigarrenkiste bleibt immer hinter uns. Verfolgungsjagd durch halb Simmern – bei uns Panik im Auto – wir denken, es ist das RD – jeder hat sein Piece schon in der Hand, ums zu schlucken – plötzlich noch ein Streifenwagen – und ich Suffkopp schlucke das Piece komplett unter. Wir halten endlich, der andere Wagen hält auch – und es sind nur ein paar total beschissene Jugendliche, die uns verarschen wollten! Mein Gott!! Was bei uns ne Panik war!!! Wir haben dann trotzdem was geraucht, was zu dem Piece im Bauch und dem Suff addiert für mich schließlich so aussah: Ich hocke zwei Stunden im „Revolution“ an der Wand und bin im Film.
26. Mai: Ein glühend heißer Sonntag, ich latsche zum Folk-Festival an der Burgkirche in Ingelheim. Das traditionelle große Freak Out an Pfingsten! Ich war noch nicht ganz auf dem Festplatz, da kam mir schon M. entgegen. Zusammen mit den anderen Jungs aus Schweppenhausen, J. und V., haben sie hier gezeltet und zum Frühstück schon fett was geraucht. Wir gingen zum Zelt, wo schon wieder gekifft wurde. Auch in den Zelten nebenan sah es nicht besser aus. Alle rauchten sich ein für den Tag. Saufen, rauchen, Musik hören. So verbrachten wir den Tag. Gegen zehn Uhr abends erwischte mich der finale Schlag, ein leises Kribbeln in der rechten Hirnhälfte – ab dann nur noch Film gesehen und einen merkwürdigen Pfeifton gehört. Bis drei Uhr war ich dann so höllisch drauf, dass ich wirklich gar nix mehr geregelt bekommen habe. Ich soll selbst alte Freunde nicht mehr wiedererkannt haben.
28. Mai: Party bei A. in Wackernheim. Mache mich nachts mit D. auf den Heimweg. Da wir um drei Uhr nicht mehr zu mir ins Zimmer konnten, weil meine Mutter sofort aufgewacht wäre, gingen wir in die Waschküche unseres Mietshauses. Hier im sauber riechenden Keller legten wir unsere Jacken auf den kalten Betonboden und hatten uns ein bisschen lieb. Und spannend war’s auch noch – hätte ja jeden Moment einer reinkommen können. Später haben wir noch oft darüber gelacht.
14. Juni: Einen Tag habe ich fürs mündliche Abi gelernt, gestern Abend war ich im „Pony Express“ – und dann mache ich zwölf Punkte in Biologie. Damit drücke ich sensationell noch meinen Abi-Schnitt unter drei: 2,9. Abends war dann die Party für den Abi-Jahrgang bei Herrn S. in Mainz. Er hat eine geile Wohnung: riesig, direkt am Rhein, Super-Anlage, zwei Balkons, ein Loveland-Schild an der Schlafzimmertür – und mitten im Wohnzimmer steht ein Flipper. Der Typ ist sowieso vorbildlich: uralte Ente, Freak-Klamotten, Säufer, Kiffer, 43jähriger Studienrat. Eine echte Super-Party, habe mich mit tausend Leuten unterhalten. Mit dem letzten Ingelheimer, der noch fahren konnte, bin ich um vier Uhr abgerauscht.
18. bis 21. Juni: An diesen vier Tagen war unser Abi-Jahrgang in einer CVJM-Baracke oberhalb des Heidelberger Schlosses. Den ganzen Tag hingen wir draußen rum, spielten Fußball oder tranken einfach in den Tag hinein. Zum Frühstück gab es schon Sekt, wobei wir mit den Korken auf den Jesus an der Wand vom Speisesaal zielten. Einmal schlief ich auf einem Tisch, weil in meinem Bett ein Pärchen lag. Mit D. war ich an zwei Abenden in der Disco. Auf einer Wiese mit malerischem Blick auf das beleuchtete Schloss machten wir es uns auf dem Rückweg bequem und waren gerade halb ausgezogen, als noch Leute aus unserem Jahrgang vorbeilatschten. Wir mussten weg und D. verhedderte sich noch in ihrer komplizierten Latzhose. War eine total geile Fahrt.
22. Juni: Der Tag beginnt für mich um neun Uhr in der Schule, wo wir noch die Abi-Zeitung heften müssen. Dann ist die feierliche Zeugnisverleihung. S. und ich haben doch keine Abi-Rede geschrieben, einer aus dem Jahrgang erklärt, warum es von uns keine Rede gibt. Bei Gott, alle Schleimscheißer tragen Anzug oder Kleidchen. Nach dem Sektempfang verziehe ich mich mit ein paar Jungs an eine Tanke, wo wir uns ein paar Sixpacks holen. Nachmittag auf einer Parkbank. Abends dann die Abi-Grillparty auf einer Wiese. Ich gebe mir nochmal die Kanne und sitze irgendwann völlig breit auf einer Bank – mit einer Fanta-Flasche! Neben mir D., die mal wieder total sauer bin, weil ich nichts mehr peile. Der Typ von der JU gröhlt besoffen „Heil Hitler“ und A. will ihn zusammenschlagen, ist aber selbst zu blau dazu. P. pisst in den Kartoffelsalat, von dem der JU-Typ später noch isst. Am Ende werden die Reste des Salats mit Böllern gesprengt. Alles in allem ein ganz gelungenes Fest.
24. Juni: Nachts steigen wir in die Schule ein. Eine alte Tradition, die Frau des Hausmeisters hat ein Fenster offengelassen. Wir öffnen leise den Haupteingang von innen. Ich habe Baumaterial organisiert und wir mauern im ersten Stock den Gang des Lehrerzimmers zu. Über zwei Meter Hohlblocksteine. Das Lehrerzimmer wird geknackt und mit leeren Flaschen vollgestellt, ein verkleideter Leichnam aus alten Kissen wird an der Schuluhr wie an einem Galgen aufgehängt. Schließlich brachten wir ein Schrottauto in die Vorhalle, das mit Anarcho-Sprüchen vollgesprüht ist. Als wir abziehen, werden die Schultüren noch mit Ketten verriegelt.
25. Juni: Offizielle Schulfeier. Man hatte wohl einige Arbeit, unsere Spuren halbwegs zu beseitigen. Das Schrottauto steht jetzt auf dem Schulhof. Die Mauer ist weg. „Ich zeige sie an, Herr Eberling!“ brüllt der Schuldirektor. Was soll’s? Es gibt zwei Fässer Bier und es wird weiter gefeiert. Wir übermalen eine Action-Painting-Wand des Kunstlehrers an der Fassade mit weißer Farbe. Als sich die Party auflöst, machen wir einen Auto-Konvoi durch Ingelheim. Abends ist dann noch eine Feier mit dem Sozialkunde-Leistungskurs bei unserer Lehrerin in Heidesheim. Auch dieser Tag endet erst in den Morgenstunden.
27. Juni: In einer Kneipe werde ich von einem Chemielehrer meiner ehemaligen Schule wegen unseres Artikels „Unter Ratten und Kakerlaken“ in der Abi-Zeitung beschimpft, u.a. als „kapitales Arschloch“. Andere Reaktionen auf den Text von N. und mir: der Schuldirektor möchte mich zu einem Vier-Augen-Gespräch über meine „Beweggründe“ einladen; D.s Eltern schreien sie an, ich wäre ein perverser Kranker und ein Terrorist – ich erhalte Hausverbot; bei fast allen Lehrern, Eltern und den Streber-Schülern gelte ich als Schwein, nur meine besten Freunde und einige andere sind hellauf begeistert – Schulterklopfen, die beiden Artikel von N. und mir sind Tagesgespräch, in den Deutsch-Leistungskursen werden sie im Unterricht besprochen, noch Wochen später sprechen mich Fremde auf die Artikel an. Leider hat fast niemand die Intention der Geschichte verstanden, alle waren nur auf positive oder negative Weise von der Perversität gebannt, obwohl es um einen Atomkrieg ging. Wie bei Upton Sinclair: „Ich wollte die Menschen ins Herz treffen, doch ich traf sie nur in den Bauch.“
29. Juni: Am Abend vorher habe ich bei einer Party eine komplette Flasche Pernod vernichtet. An diesem Morgen habe ich keinen Kater, aber der Rest-Alkohol arbeitet noch munter. Gut gelaunt beschließe ich, ein Buch zu schreiben und bis 15 Uhr sind die ersten beiden Kapitel fertig.
30. Juni / 1. Juli: Diese beiden Tage habe ich mit M., J. und V. glatt und sauber durchgekifft. Keine besonderen Vorkommnisse.
12. Dezember: Wird ja mal Zeit, dass ich von den letzten Monaten berichte. Das Buch („Drei Eimer Scheiße“), in dem es hauptsächlich um Außerirdische und Fäkalien geht, ist tatsächlich fertig geworden. Das abgetippte Original und eine Kopie zirkulieren in Ingelheim – geht wohl von Hand zu Hand – ich habe jedenfalls keins mehr. Ich habe den Führerschein gemacht. Bei der Prüfung hatte ich totales Glück: a) im zweiten Gang losgefahren, b) nach zweihundert Metern den Motor abgewürgt, c) in einer unübersichtlichen Kurve links gefahren, d) beim Einparken fast die Kupplung gefetzt (roch schon), e) auf der Autobahn den Prüfer gefragt, ob ich überholen soll. Er meinte am Ende, ich sei „beschissen“ gefahren, gab mir den Lappen aber doch noch, weil er sowieso schon gekündigt hätte. Und am 2. Januar 1986 beginnt ein neues Kapitel: Zivildienst im Ingelheimer Altenheim – als Urinkellner für zwei Mark die Stunde. Wahnsinn!
Quelle: Tagebuch 1985
Steve'n'Seagulls – Thunderstruck. https://www.youtube.com/watch?v=e4Ao-iNPPUc

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