„We were the class they couldn’t teach.“ (Police: Born in the 50’s)
30. März: Der erste Ferientag meiner letzten Ferien. Die letzte Woche habe ich eigentlich relativ gut abgeschnitten. In Mathe habe ich sensationelle fünf Punkte in der Klassenarbeit bekommen, kriege ich also keine null Punkte im Zeugnis, falle ich deswegen auch nicht durch’s Abi. Geil! Dienstags habe ich im Kino einen neuen Monty Python-Film gesehen, Mittwoch auf dem Treffen des Abi-Jahrgangs durchgesetzt, dass in irgendeiner Nacht der Gang vor dem Lehrerzimmer zugemauert wird, und Donnerstag gelang es mir sogar, D. mal wieder zu verführen. Gestern war der letzte Schultag mit 45 Minuten bei Frau Schmitt, die aus dem Buch „Der klerikale Witz“ vorgelesen hat. Es gibt Menschen, die können brutal humorlos sein. Heute habe ich meine schriftliche Begründung zur Kriegsdienstverweigerung angefangen, aber während ich an der Schreibmaschine saß, kamen M. und J. vorbei. M. hatte einen Brocken Super-Shit, den wir sofort zu einem gigantischen Tütchen verbauten. Dann gingen wir zu V. rüber. Es wurde ein total geiler Abend, Musik gehört und nichts mehr geregelt gekriegt. Ich habe gelacht, was die Lungen hergaben. Wir sahen dann noch einen alten Film im Fernsehen, wo so Steine die ganze Zeit wachsen. Wir trampten später nach Stromberg, sind dort mit ein paar Flaschen Wein rumgeflogen und waren in der Disco.
1. April: Morgens schrieb ich die Verweigerung fertig, hab einfach alles von einem Schulfreund abgeschrieben. Nachmittag bei N. wegen des Deutsch-Referats. Wir haben aber nur irgendeinen süßen klebrigen Likör in uns reingeschüttet. Danach war ich bei D. – übrigens alles mit dem Rad, weil meine Busfahrkarte abgelaufen ist. Sie hat natürlich schon an der Tür meine Fahne gerochen. Ich glaube, wir könnten das glücklichste Paar werden, wenn sie auch so dekadent wäre wie ich. Aber sie kifft nicht, säuft nicht und raucht noch nicht mal. Übrigens lernt sie schon fürs Abi. Als ich rauskomme, ist mein Rad total demoliert, Reifen abgestochen usw. Ich gehe also zu Fuß nach Hause. Wozu brauche ich ein Fahrrad? Ich wollte ja sowieso demnächst den Führerschein machen.
2. April: Vormittags habe ich das Geld für meine AZ-Artikel kassiert und das Layout für meine Abi-Zeitungsartikel gemacht. Abends trampte ich zu P. nach Gau-Algesheim. Wir diskutierten über Tod und Dritte Welt. Er hat überhaupt keine Beziehung zum Leben und sieht alles sehr zynisch. „Klar kauft der Flick sich die Politiker, würde ich auch machen, wenn ich Geld hätte, Gerechtigkeit gibt’s doch gar nicht“. An sowas wie Liebe glaubt er nicht und will Selbstmord begehen, falls er querschnittsgelähmt würde oder eine hässliche Narbe im Gesicht hätte oder Krebs. Behinderten rät er, lieber gleich Schluss zu machen, er hat mir seinen Schlaftablettenvorrat schon gezeigt. Im Falle des Atomkriegs würde er Musik hören und Nuss-Eis essen, bevor er versaftet wird. Auf dem Heimweg habe ich wohl noch zwei Mercedes-Sterne abgebrochen, denn die waren am nächsten Tag in meiner Jackentasche.
3. April: Kater, Rollläden bleiben unten, obwohl draußen das blitzsaubere Wetter vor der Tür steht und rein will. Chaos im ganzen Zimmer. Das ist nichts neues, aber jetzt, wo ich den Kram fürs Abi-Lernen sortieren will, ist es ganz aus. Ich finde den zweieinhalbseitigen Anfang einer Geschichte, die ich wohl letztens unter dem Eindruck meines derzeitigen Kafka-Trips begonnen habe. Abends war Abi-Zeitungs-Treff. Ich war einer der wenigen, die wirklich einen Artikel geschrieben haben. Wir sitzen draußen, paffen gemütlich unseren Halfzware weg und einer liest vor. Abends war ich mit J. im „Haus der Jugend“, wo ein Werner Herzog-Film über Aborigines und irgendwelche grünen Ameisen lief. Danach gingen wir in den „Stillen Zecher“, um ein paar Bierchen zu zoschen. Die Wirtin und ein harter Kern später Gäste saßen total besoffen am Stammtisch. Trotzdem bediente sie uns noch. Wir amüsierten uns köstlich über diese Rasselbande. Wir diskutierten über Philosophie. Vor einem Jahr, als wir noch unsere Sauf-Sessions auf dem Kinderspielplatz gemacht haben, hätten wir nur darüber diskutiert, wieviel Bier in einen reingeht und wieviel wo wieder rauskommt.
4. April: Bin früh und mies gelaunt aufgestanden, da ich die ganze Nacht geträumt habe, mir würden Leute von oben auf den Kopf kotzen. Vormittags war ich bei den Bullen, wegen einem polizeilichen Führungszeugnis für die Kriegsdienstverweigerung. Nachmittags zog ich die Jeans-Jacke an – damit ist der Sommer offiziell eröffnet – und fuhr mit U. zu S. Es war total warm und wir saßen die ganze Zeit im Garten, tranken Gin-Tonic und versuchten, die Rede für die Abi-Feier am 22. Juni zu schreiben. Über die total unlustige Anrede „Meine eher versehrten Lahmen und Leeren“ sind wir aber nicht hinausgekommen.
Abends traf ich M., der die glorreiche Idee hatte, einfach mal loszutrampen und dann zu sehen, wo man rauskommt. Ein Typ, der uns die ganze Zeit was von Gott erzählte, nahm uns bis zur Ingelheimer Post mit, wo wir der fahrenden Kirche mit unseren Weinflaschen entstiegen. Dort hingen ein paar Leute mit einem Kasten Bier rum und wir blieben eine Weile. Um halb zwölf gingen wir in den „Club“. Dort wollten wir ein Piece anchecken, es ging aber nix ab. Später waren wir noch im „Pony Express“, haben ein Guiness getrunken und uns mit zwei Pizzas auf eine Parkbank gesetzt. Frisch gestärkt ging es zur Autobahnauffahrt. Wir hatten Glück, es hielt sofort jemand, der uns nach Bingen mitnahm. Dort war nicht mehr viel los, inzwischen war es schon zwei Uhr. Ein oder zwei Bier in der Bahnhofskneipe. Wir trampten bis Weiler und wollten zu Fuß nach Schweppenhausen. Auf der Landstraße sprangen irgendwelche Kröten herum. M. suchte die ganze Zeit mit seinem Feuerzeug Kröten und wollte ihnen über die Straße helfen.
Drei Uhr. Kein Auto weit und breit. Wir schleppten uns über die Straße und versuchten, während dem Gehen ein bisschen zu schlafen. Plötzlich hielt ein Auto. Ein Bulle auf dem Rückweg von einer Razzia im Ingelheimer Asylantenheim. Er fuhr uns bis nach Stromberg. Dort trafen wir auf dem Marktplatz ein lustiges Sammelsurium von Leuten. Ein Bayern-Fan, der von irgendwelchen Meisterschaften erzählte, ein bärtiger Brillen-Gnom, der vorbeifahrenden Autos zuwinkte und mir dann immer verschämt zuflüsterte, er kenne die Leute gar nicht, ein junger Prolet, der nie was sagen durfte, weil ihn der Bayern-Fan nicht ausreden ließ, und ein Typ, der es fertig brachte, noch besoffener zu sein als alle anderen. Er fragte uns immer, wo wir hinwollten, und versprach uns dann, uns nach Schweppenhausen zu bringen. Der Bärtige hatte mir aber inzwischen zugeraunt, dass dieser Typ weder Führerschein noch Auto hätte. Die Nummer wiederholte sich alle fünf Minuten. Dann kam noch ein Berg von Kerl wankend hinzu. Er blieb nur kurz und stolperte dann auf ein Haus am Marktplatz zu, das er offenbar bewohnte. Er drohte, uns mit seiner abgesägten Schrotflinte vom Balkon aus abzuknallen, wenn wir zu laut würden.
Inzwischen war es vier Uhr und mit Trampen war es wohl nichts mehr. Wir liefen wieder los und nahmen die Abkürzung über eine Wiese. Doch dann hörten wir ein Auto. M. lief wie ein Irrer los, ich lachte ihn schallend aus. Aber das Auto hielt und ich rannte auch los. Was soll ich sagen? Es war V. mit einigen Freunden, gerade zurück aus dem „Revolution“ in Simmern. Eine Sekunde später landeten wir in Schweppenhausen.
5. April: Schon um zehn Uhr musste ich entnervt das Bett verlassen. Es ging zu Oma und Opa nach Klingelbach. Oma hat irgendwo Geld versteckt und findet es nicht mehr. Sie hat sich dann einfach auf die Treppe gesetzt, einen hysterischen Schreikrampf gekriegt und mal wieder mit Selbstmord gedroht. Sie lebt übrigens in einer Blutfehde mit Opa. Beim Essen der zweite Anfall, mein Vater kann gerade noch verhindern, dass sie mit einem furchterregenden Küchenwerkzeug auf Opa einschlägt. Sie hält ihn für einen Spion. Er will sie in die Irrenanstalt einweisen lassen, was ihm jedoch nicht gelingt, weil man einem Alkoholiker sowieso nichts glaubt. Jetzt (drei Uhr nachmittags) bin ich endlich hier im Wohnzimmer allein und beende diese Niederschrift (Oma sucht Geld, Opa ist in der Kneipe), während mein Vater denkt, ich säße an meinen Abi-Vorbereitungen. Ich sehe zu ihm rüber. Wenn er das hier lesen könnte …
Quelle: Tagebuch 1985
David Bowie – Loving the Alien. https://www.youtube.com/watch?v=IJLkjjtUb10
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen