Mittwoch, 9. September 2015

Meine Fernsehkarriere

Es war im Sommer 1993, als meine kometenhafte, besser: silvesterraketenartige, nein: wunderkerzenmäßige Karriere beim Fernsehen begann. Wie ein asthmatisches Glühwürmchen zog ich einige Wochen lang meine Bahn über den Medienhimmel von Berlin, in jenen Pioniertagen der Privatsender, als jeder tapfere Absolvent eines geisteswissenschaftlichen Studiengangs, der vor diesen damals noch lokomotivgroßen Kameras nicht schreiend davonlief, die Chance bekam, ein Weltstar zu werden.
FAB („Fernsehen aus Berlin“), eine zum damaligen Zeitpunkt in einem Hinterhof der Nollendorfstraße logierende Produktionsgesellschaft mit eigenem Sendebetrieb, suchte damals Nachwuchskräfte, die Magazinbeiträge für einen neuen Sender namens VOX schreiben und drehen sollten. Ich erinnere mich an heitere und unbeschwerte Redaktionssitzungen mit Manuel Werner, der mit seiner ruhigen dunklen Stimme die Novizen an das Medium heranführte.
Ein Themenvorschlag, den ich auf meiner Liste hatte: Warum lächeln die Ziffernblätter der Uhren in der Werbung immer? Sie stehen grundsätzlich auf zehn vor zwei oder zehn nach zehn, oder? Mörderidee. Ich weiß. Von meinem nächsten Vorschlag habe ich sogar noch ein fertiges Skript. Überflüssig zu erwähnen, dass er nie gedreht und ausgestrahlt wurde, da VOX relativ schnell von Eigenproduktionen zum Abspielen von Serienaltglas überging. Es ist eine Parodie auf Verschwörungstheorien – bevor dieses Wort überhaupt in unserem Sprachraum heimisch wurde. Geplant war der Beitrag für die Sendung „Canale Grande“ mit Dieter Moor.
Der letzte Stasi-Akten-Skandal
Ton: Wer ist nicht alles in den Stasi-Akten aufgetaucht. Staunen und namenloses Entsetzen lösen die Namen der entlarvten Spione aus. Doch im untersten Winkel der Gauck’schen Aktenberge ruht der allerschaurigste Fall von Geheimnisverrat: der Fall Michail Sergejewitsch Gorbatschow, genannt Gorbi. Exklusiv für Canale Grande werden wir Ihnen die Karriere dieses Mannes schildern. Ja, es ist wahr: Gorbatschow war ein Agent. Agent des amerikanischen Geheimdienstes!
Bild: Portraitfotos von Stasi-IMs (Lothar de Maizière, Manfred Stolpe, Heiner Müller u.a.), am Ende Gorbatschow-Portrait und eine Luftaufnahme des Pentagon/Washington.
Ton: 1962. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges beschließt das Pentagon, die kommunistische Bedrohung mit einer neuen Strategie zu beantworten. Die Infiltration der sowjetischen Elite durch die CIA soll die entscheidende Wende im Kampf der Systeme bringen. Man beginnt, unter den jungen aufstrebenden Bürokraten der Nomenklatura inoffizielle Mitarbeiter anzuwerben. Diese neuen Agenten, „Schläfer“ genannt, sollen jedoch nicht für belanglose Aufgaben wie Informationsbeschaffung verschlissen werden. Sie sollen erst tätig werden, wenn sie am Ende ihres Marsches durch die Institutionen angelangt sind. Unter ihnen ein Mann, der Geschichte machen wird: Michail Gorbatschow.
Bild: „1. Akt: Die Anwerbung“. Kalter Krieg (US- und SU-Waffen, Kuba-Krise), junge Sowjetbürokraten auf Parteitagen und in der Propaganda, Kreml, Portrait des jungen Gorbatschow.
Ton: Es ist uns gelungen, seinen ehemaligen Führungsoffizier in den USA zu interviewen. William Cody ist inzwischen 85 Jahre alt und lebt in Buffalo.
Frage: Wie kamen Sie auf Gorbatschow?
Antwort: Er ist uns als junger Parteisekretär in Stawropol aufgefallen. Man konnte ihn immer sehr gut an diesem komischen Fleck auf der Stirn erkennen.
Frage: Wie konnten Sie all die Jahre unbemerkt Kontakt mit ihm halten?
Antwort: Wir trafen uns nur sehr selten. Wir organisierten vor allem die gegenseitige Unterstützung der „Schläfer“, die natürlich nichts voneinander wissen durften. Auffällige Geschenke oder Überweisungen hat es im Übrigen nie gegeben.
Frage: Warum schweigt die CIA beharrlich zu den Vorwürfen?
Antwort: Weil es so aussehen soll, als wäre unser System überlegen gewesen. Der Präsident wollte das so.
Bild: Aufnahme des Interviewten von schräg hinten. Englischer Text, der auf Deutsch übersprochen wird.
Ton: Während die USA im Katzenjammer des verlorenen Vietnamkriegs versinken und ein korrupter Präsident das Land regiert, tickt die Zeitbombe im Inneren des roten Imperiums. Scheinbar mühelos machen viele „Schläfer“ Karriere. Doch niemand ist so erfolgreich wie Gorbatschow. Er wird Generalsekretär der KPdSU und ernennt sich bald zum Präsidenten der Sowjetunion. Die CIA ist so überrascht, dass sie zunächst untätig bleibt. Um auf den unverhofften Erfolg ihres Mannes in Moskau angemessen reagieren zu können, wird im Jahr 1989 der ehemalige CIA-Chef George Bush als Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt. Es kann losgehen.
Bild: „2. Akt: Der Aufstieg“. Vietnam-Krieg, Nixon-Portrait, sowjetische Parteitage, Gorbatschow als neuer Generalsekretär im März 1985, Bush-Portrait (60er Jahre), seine Ernennung zum US-Präsidenten.
Ton: Ein ehemaliger Vertrauter Gorbatschows berichtet.
Frage: Wie konnte man ein Weltreich so schnell und gründlich abwickeln?
Antwort: Die Sowjetunion war ein autoritäres System. Ist man erst mal ganz oben, hat man alle Macht der Welt.
Frage: Warum sollte die UdSSR aufgelöst werden?
Antwort: Der ganze Marxismus war eine Schnapsidee. Unser Land blutete für den Rüstungswettlauf mit den Amerikanern. Wir wollten lieber schnelle Autos bauen, gute Fernseher und Kühlschränke haben.
Frage: Was machen Sie heute?
Antwort: Ich leite ein chinesisches Restaurant in Shanghai.
Bild: Gesicht unkenntlich, Nonsens-Russisch, Deutsch übersprochen.
Ton: Die Entsorgung des Warschauer Pakts erfolgt in rasch aufeinander folgenden Schritten. Zunächst wird die sowjetisch besetzte Zone, auch DDR genannt, dem Westen übergeben. Dann werden die Verbündeten entlassen. Hierfür erhält Gorbatschow seinen ersten Lohnscheck. Er bekommt 1990 den Friedensnobelpreis und damit eine siebenstellige Summe. Im darauffolgenden Jahr löst er die Sowjetunion auf, erklärt die Sache mit dem Kommunismus für beendet und öffnet das Land für Pornographie und Kabelfernsehen. Danach geht er in die verdiente Frührente.
Nur die DDR-Staatssicherheit, die bereits 1987 durch einen Überläufer eine Liste der „Schläfer“ erhalten hatte, und Erich Honecker wissen ebenfalls von den hochbrisanten Zusammenhängen. Ihr Eingreifen kommt auf tragische Weise zu spät. Honecker findet sich bald darauf im Gefängnis wieder und wird kurze Zeit später nach Feuerland verbannt.
Bild: „3. Akt: Der Auftrag“. Mauerfall, Wiedervereinigung, Machtwechsel im Ostblock, Ceaușescu-Erschießung, Zerfall der UdSSR, Mielke- und Honecker-Portraits, Honecker-Prozess und Ausweisung.
Ton: Über die Hintergründe erklärte uns ein ehemaliger Stasi-Major folgendes:
Als wir von den konterrevolutionären Absichten des Genossen Gorbatschow erfuhren, haben wir natürlich versucht gegenzusteuern. Doch die heroischen Versuche unseres Generalsekretärs des ZK der SED Erich Honecker, den Sozialismus zu retten, endeten tragisch. Als er Gorbatschow während dessen Besuchs anlässlich des 40. Jahrestags der DDR-Gründung im Oktober 1989 direkt auf den Sachverhalt ansprach, ließ dieser Honecker fallen und wenig später die Mauer öffnen. Die historischen Folgen sind bekannt: der Klassenfeind übernahm unseren Staat.
Bild: Gesicht unkenntlich, Stimme verzerrt (stark sächsischer Akzent).
Ton: Wer war Gorbatschow wirklich? Muss die Geschichte in weiten Teilen neu geschrieben werden? Das historische Ringen zwischen Kapitalismus und Kommunismus – letztlich entschieden durch einen billigen Geheimdiensttrick? Empörte Reaktionen in aller Welt. (Fiktive Bürgerkommentare und Politikerstatements)
Bild: Gorbi-Portrait. Kurze Szenen mit Leuten auf der Straße und Interviewausschnitte mit angeblichen Politikern.
The Temptations - Papa Was A Rolling Stone. https://www.youtube.com/watch?v=pJV2pWFyfn4

5 Kommentare:

  1. Bravo für diese geniale Textsorten- und Dokumentparodie.

    Öhmmm,....ob der Franz Josef von den inzwischen vervielfältigten Strauss´ nicht vielleicht doch als Geheimagent auf der Lohnrolle der Amis stand?

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    1. Strauß war ein Außerirdischer, so wie Michael Jackson. Mensch, Gitano! Das sieht man doch ;o)))

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  2. Ha, FAB! Da gab es auch eine Sendung, die hieß "Citro" - dir bekannt?

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    1. Nein, aber ich kann mich noch an den älteren Herrn im OKB erinnern, mit Iro, hat immer so ein merkwürdiges Deutsch gesprochen. Kennste? Heute heißt der Sender ALEX und ist im Brunnenviertel. Im OKBeat war ich als Kiezschreiber mal eingeladen.

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    2. Erinnere mich dunkel... schlimm. Wie eigentlich alles, was dort fabriziert wurde. Bis auf eine Ausnahme. Vielleicht verblogge ich das mal ;)

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