Donnerstag, 24. September 2015

Life of P

Die folgenden Notizen habe ich auf dem Briefpapier des Hotels gemacht. Einige Auszüge:
„22. April 1987: Dr. P. ist ein kleiner, dicker Mittfünfziger mit Halbglatze, dessen Mund ständig zu einem rhythmischen Schnaufen offensteht. Er ist ein reich geborener und reich gebliebener Geschäftsmann, der es gewohnt ist, die Dinge des Lebens mit einer sagenhaften Souveränität und präzisen Genauigkeit mittels weniger Sätze und Gesten zu erledigen. Er hatte bereits ein komplettes Programm aufgestellt, das Hotel und die anstehenden Tagestouren bezahlt, Reiseführer und Wörterbücher gekauft, und als er uns das Zimmer zeigte, kam alsbald der Zimmerkellner mit Obst und Wein. Bei jeder seiner Bewegungen spürt man den erfahrenen Weltmann. Er strahlt eine unbestreitbare Selbstsicherheit aus, er führt das Gespräch, seine Vorschläge bringt er mit einer, keinen Widerspruch erwartenden Ruhe hervor, sie sind sämtlich bis ins letzte durchdacht und ganz selbstverständlich, wie hypnotisiert, fügen wir uns in alles. Kein Thema, zu dem er nicht etwas wüsste, sein Gedächtnis ist lückenlos – früher war er einmal Kommissar bei der Polizei. Nach einem Drink an der Hotelbar verließ er uns – nicht ohne den folgenden Tag bis in letzte Kleinigkeiten hinein geplant zu haben -, und mein Vater und ich schlenderten noch durch die Innenstadt. Abends sahen wir uns dann bei einigen Henninger Export das Fußballeuropapokalspiel im Fernsehen an.“
„23. April 1987: In manchen Dingen ähnelt mir mein Vater sehr. Wir segeln beide immer knapp am Chaos vorbei, nie haben wir die Dinge vollständig im Griff. Auf unserem Weg zur unvermeidlichen Akropolis-Besichtigung, obwohl in Sichtweite von ihr wohnend, verliefen wir uns mehrmals – aber schön. Wir erstiegen den Berg nämlich nicht über den Touristenweg, sondern schlichen durch die winzigen Gässchen an seinem Fuß. Fast kein Mensch begegnete uns zwischen den unentwirrbar verschachtelten Häusern, nur eine große Zahl von Katzen döste an unserem Weg oder sprang über uns von Dach zu Dach. (…) Auf der Akropolis war trotz der Vorsaison ein ungeheuerlicher Andrang. (…) Ich glaube, ich war der einzige Mensch ohne Fotoapparat. Unvermeidlich: die japanischen Touristen. Oft ließen sie ihre Familien minutenlang regungslos lächelnd verharren, bis sie endlich den Aus- bzw. Erlöser drückten. Doch die Europäer sind keineswegs besser. Ich beobachtete einen Trupp Franzosen: einer von ihnen blieb mit seiner Videokamera zurück, befahl den anderen sich umzuwenden und auf ihn zuzukommen. Lachend und schwatzend stapften sie heran, um kurz nach dem Klacken, welches das Aufnahmeende anzeigte, auf dem Absatz kehrt zu machen und eisig schweigend den begonnenen Aufstieg fortzusetzen. (…)
Um zwei Uhr trafen wir uns mit dem Ehepaar P. in einem Nobelrestaurant gegenüber der Akropolis. Schon beim Abgeben meiner abgewetzten Jeans-Jacke an der Garderobe fühlte ich mich fehl am Platz. Auch hier ist Dr. P. ganz in seinem Element. Zitat: „Ich bin die Speisekarte.“ Er empfiehlt die richtigen Speisen und alsbald umschwirren uns zwei Kellner, der passende Wein wird serviert und ich klinke mich nur zu bereitwillig aus dem nun einsetzenden Smalltalk aus. Eine Rechnung kommt in einem solchen Restaurant nicht an den Tisch. P. weist uns unauffällig auf den Mann am Nachbartisch hin, es ist ein griechischer Minister. (…)
Fahrt ins Nationalmuseum, wo sich der Meister auch als allwissende Größe der Kultur erweist, darauf folgt eine Besichtigung ihres Stadtanwesens. Bei den unvermeidlichen Drinks (die Hausbesichtigung und die Landschaftsgemälde seiner Frau liegen schon hinter uns) plaudert der Doktor aus dem Nähkästchen: gerade abgeschlossener Handelsvertrag mit dem Iran (er nennt eine Millionensumme und klatscht dann in die Hände), beste Beziehungen zur Athener und Frankfurter Polizei (Strafzettel? Anruf beim Polizeipräsidenten genügt. Braucht er in Frankfurt einen Polizeiwagen als Taxi? Call the right number). Und dennoch: ich genieße das alles in vollen Zügen und bin stiller, aufmerksamer Beobachter. Zurück im Hotel stellen wir fest, dass keine Steckdose in unserem Zimmer funktioniert. Mein Vater rasiert sich im Schneidersitz vor einer Steckdose im Flur. Ich höre ein mehrstimmiges Lachen von draußen, während ich am Tisch sitze und schreibe.“
The Eurythmics - Love Is A Stranger. https://www.youtube.com/watch?v=_eGp3T96_1A

1 Kommentar:

  1. Ich muss gestehen, ich bewundere ja solche souveräne alte Männer.
    Ich habe im Berufsleben ab und zu mit solchen Typen zu tun.
    Gerne Unternehmer oder größere Tiere.
    Weil ich selbst nie so sein werde, auch mit 80 bin ich dann wahrscheinlich immer noch der gleiche idiotische Kindskopf.
    Aber gerade diese Typen, allesamt Arschlöcher, die Uns durch ihre Art korrumpieren, sind es doch gerade, die für die ganze Scheiße die hier läuft verantwortlich sind.
    Von daher Augen und Herzen auf. Und der Bauch darf auch noch was sagen.

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