Samstag, 5. September 2015

Les Bateaux rouges

„Es gibt drei goldene Regeln, um eine Novelle zu schreiben - leider sind sie unbekannt.“ (Somerset Maugham)
Sie war ihm sofort aufgefallen. Die einzige rote Yacht im Hafen von Bad Nauheim. Elegant und geheimnisvoll lag sie im Dunkeln.
Er schlich näher. Nichts zu hören. Er kletterte an Bord. Eine schmale Treppe führte abwärts. Dann sah er die Kombüse. Im Kühlschrank fand er Lachs und Kabeljaufilets. Auch Brot gab es in einem Holzkasten. Rotwein war in einem Vorratsschrank. Dazu „Windspiel“, ein deutscher Gin. Er hatte so lange schon nichts mehr gegessen und getrunken. Und irgendwann schlief er ein.
„He, du!“
Jemand schüttelte ihn an der Schulter. Er öffnete die schweren Lider ein wenig. Ein voluminöser Mann mit strohblondem Schnurrbart und einer Kochmütze auf dem Kopf blickte ihn an.
„Wer bist du denn?“
„Paul Getto.“
„Was machst du auf unserer Yacht?“
„Ich hatte Hunger.“
„Das Problem hast du ja offensichtlich gelöst. Komm mit, ich bring dich zum Chef.“
Paul erhob sich mühsam. Er wurde von zwei Seiten gestützt. Jetzt sah er auch den anderen Mann. Ein breitschultriger Typ mit Schiffermütze und Pfeife.
Das Licht an Deck blendete ihn. Auf einem Liegestuhl saß ein gutaussehender Mann mittleren Alters in langen weißen Hosen und einem marineblauen Kaschmirpullover.
„Den haben wir gefunden, Mister Bonetti. Paul Getto heißt unser blinder Passagier.“
„Schau an, wir haben einen Gast. Herzlich willkommen! Mein Name ist Andy Bonetti. Die beiden Herren sind Horst und Anton Lederhos, mein Koch und mein Maschinist. Und das ist unsere Pilotin, Alaska Jones, und mein Famulus Johann.“
Er deutete auf eine hochgewachsene nubische Göttin mit kurzem Haar, die einen hautengen, schneeweißen Lederoverall trug, und einen jungen Mann mit einer längsgestreiften Weste, der zur Begrüßung die rechte Augenbraue hob.
„Wo … wo bin ich hier?“
„Ich darf Sie an Bord der Pegasus begrüßen, meiner Luftyacht. Schauen Sie mal über die Reling“, fuhr der weltberühmte Schriftsteller gutgelaunt fort.
Paul trat ans Geländer und blickte hinab. Sie waren mindestens in hundert Meter Höhe. Unter ihm war eine ausgedehnte Waldfläche zu erkennen.
„Die Eifel. Die Luftyacht wird durch Elektromotoren angetrieben und bewegt sich mit zweihundert Stundenkilometern fort. Sie ist fast vollständig aus Karbon angefertigt.“
„Darf ich Ihnen einen Aperitif anbieten?“ fragte Johann den jungen Mann.
„Gerne. Vielleicht einen Prosecco?“
„Ich bitte Sie, wir werden in Paris zu Mittag essen." Bonetti lachte. „Johann! Champagner für den Herrn. Und dann erzählen Sie mir, was Sie zu mir geführt hat.“
Sie plauderten fast drei Stunden. Paul erzählte von seinem abgebrochenen Studium der Spätpolonistik im Interdisziplinären Individuellen Humanistischen Studiengang an der Universität in Katowice. In Deutschland habe er dann keine Wohnung gefunden und lebe nun als Hobo auf der Straße. Seine Eltern glaubten immer noch, er würde in Bielefeld Jura studieren.
Gegen Mittag legten sie am Eiffelturm an. Horst Lederhos servierte zunächst Moules marinières, Muscheln in Weißwein. Gefolgt von Blanquette de veau à l'ancienne - Kalbsragout mit Champignons, Schalotten und Wildreis. Zum Abschluss kredenzte er eine Crème brûlée. Dazu tranken sie einen jungen Montrachet Marquis De Laguiche und zum Abschluss eine Tasse Mokka. Tief unter ihnen bildete sich eine Menschenmenge, die eifrig eine rote Luftyacht fotografierte, die an der Spitze des weltberühmten Wahrzeichens vor Anker lag.
Frisch gestärkt flogen sie weiter Richtung Süden. Über die grünen Vulkankrater der Auvergne. Über das schmale Band der Rhône, das in der Sonne glitzerte. Am Abend sahen sie unter sich die Lichter von Marseilles. Winzige Segelboote zogen weiße Gischtbahnen durch das Meer. Sie wechselten den Kurs und folgten der Côte d'Azur bis Monte Carlo. Dort begann Alaska Jones mit dem Sinkflug, und wenig später gingen sie im Hafen vor Anker.
Neben ihnen lag die Luftyacht von Johnny Malta. An Bord von Johnnys Yacht feierten sie einen rauschenden Abend. Am nächsten Tag sollte Andy Bonetti in Cannes die silberne Möwe für sein faszinierend schlecht geschriebenes Machwerk „La Vie de Bohème“ verliehen werden.
Am nächsten Morgen verabschiedete sich der Lichtgott der nordhessischen Literatur von seinem Gast, nicht ohne Paul Getto noch fünfhundert Euro für die Weiterreise und seinen Aufenthalt in Südfrankreich zu überreichen.
P.S.: Hätten Sie’s gewusst? 1739 erfand der Comte de Fricassée, Armand le Dangereux, das Kalbsragout. Damals wurde das Ragout noch in Blätterteigkörbchen gefüllt, später hat sich dann Reis als Beilage durchgesetzt. In Belgien isst man es noch heute ausschließlich mit Pommes frites.
Level 42 - Love Games. https://www.youtube.com/watch?v=Wvq85yKCydg
Claude Monet - Les Bateaux rouges. https://pt.wikipedia.org/wiki/Les_bateaux_rouges#/media/File:Les_bateaux_rouges.jpg

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen