Samstag, 11. Oktober 2014

Herbstbesuch

Heute habe ich zum ersten Mal seit etwa zwanzig Jahren wieder das Grab meines Großvaters in Klingelbach gesehen. Es ist Herbst, man besucht die Toten. Auf dem Friedhof sind einige ältere Leute und ich komme mir mit meinen 48 Jahren vor wie ein Kind. Die schönen alten Namen auf den Grabsteinen: Pauline Kratz. Zusammen mit meinem Vater reinige ich die Grabplatte und bepflanze die Schale neu. Anschließend fahren wir zum Haus meiner Großeltern, das wir längst verkauft haben. Hinter dem Haus ist jetzt Rasen, wo meine Großmutter früher Kartoffeln und Gemüse angepflanzt hatte. Auf der Straße, wo ich als Kind immer gespielt habe, spielen jetzt neue Kinder. Dieses Haus hat mein Großvater, er war Maurer, zusammen mit meinem Vater selbst gebaut. Jeden Stein haben sie selbst in der Hand gehabt und die Baugrube wurde mit der Schaufel ausgehoben.
Die alten Geschäfte im Dorf gibt es nicht mehr. Früher gab es einen Schuster, der die Schuhe neu besohlt oder repariert hat. Es gab einen Dorfschmied, dessen Hund in einem Rad lief und damit den Blasebalg angetrieben hat. Das glaubt einem heute kein Mensch mehr. Mein Vater sitzt am Steuer und erzählt, wer früher in den Häusern Klingelbachs gewohnt hat, an denen wir vorbeifahren. Ich bin auf einer Zeitreise in meine eigene und seine Vergangenheit. Als junger Künstler hat er einmal eine Wand der Dorfschule bemalen dürfen. Das abstrakte Kunstwerk ist längst überstrichen worden. An einer Bushaltestelle wartet ein junger Punker mit einem perfekt gezirkelten Irokesenschnitt. Er sitzt vornüber gebeugt auf dem Bänkchen, hat die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt und liest ein Buch. Man fährt inzwischen auf einer Umgehungstraße nach Klingelbach, früher ist man über die Dörfer gefahren. Das verkürzt zwar die Fahrzeit, schmälert aber das Vergnügen.

6 Kommentare:

  1. Ganz gross, diese Kleinigkeiten. Danke!

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    1. Auch ich habe zu danken. War gerade mit dir in meinem alten Kreuzberger Lieblingskino ;o)

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  2. Das ist aber auch echt schön, eine Schande, dass ich das noch nicht kannte...

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    1. Es ist schon eine kleine Ewigkeit her, dass ich dort mit einer Kreuzberger Freundin "Control", einen klasse s/w-Film über den Joy Division-Sänger Ian Curtis, gesehen habe. Angenehme Atmosphäre, man hat im Moviemento das Gefühl, die 80er Jahre wären nie zu Ende gegangen. Danach waren wir noch in der Dieffenbachstraße, wo sie als Studentin gewohnt hat, was trinken.

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  3. Er liest ein Buch ????
    Kein Smartfoun ?
    Ein junger Mensch an der Bushaltestelle liest ein Buch ?
    Weist Du, was Du geschrieben hast ?
    Reine Fiktion.

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    1. Das rätselhafte Leben auf dem Dorf ... Und wo wollte er am helllichten Tag eigentlich hin? Es war gerade zwölf Uhr mittags und die Samstagnacht noch etliche Stunden entfernt. Seine Punker-Freundin im Nachbardorf besuchen? Zur städtischen Leihbibliothek in Limburg? Man könnte eine kleine Geschichte aus dieser zufälligen Beobachtung entwickeln. Er hat an diese Dorfbushaltestelle ungefähr so gut hingepasst wie ein Kardinal in vollem Ornat oder ein Maori mit Kriegsbemalung.

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