Mittwoch, 1. Oktober 2014
1994
Auszüge aus dem Notizbuch:
14. Januar. Die Worte sind so arm im Vergleich zu meinen Gedanken. Und die Gedanken wiederum „sind die Schatten unserer Empfindungen – immer dunkler, leerer, einfacher als diese“ (Nietzsche).
20. Januar. „Wahrheit“ und „Sinn“ sind empirische Begriffe. Was wahr ist und was sinnvoll, ist das Ergebnis einer Übereinkunft. Darum hat die Philosophie im Zeitalter des totalen Individualismus so einen schweren Stand. Jeder findet seine eigenen Wahrheiten und Weisheiten.
12. Februar. Ich war zwei Wochen mit D. bei Freunden in Nairobi. Eine Villa mit Hausangestellten, Zugfahrt nach Mombasa, Baden im indischen Ozean, Wanderungen am Mount Kenya, die herrliche Landschaft im Masai Mara Nationalpark, abends am Feuer sitzen und nachts im Zelt den unbekannten Geräuschen lauschen.
20. Februar. Mancher lernt das Fliegen nicht/ Selbst wenn er ein Vogel ist/ Bleibst du hier an dieser Bar/ Werden keine Träume wahr.
4. März, Berlin. Ich erinnere mich, dass in meiner Kindheit ein guter Bleistift der Stolz des Schreibers war. Itzo schreibe ich mit einem chinesischen Holzgriffel der Marke „Chung Hwa“. Wo ist sie hin, die Zeit endlosen Bleistiftspitzens, des „Schönschreibens“ und der Diktate, als wir das pflanzenhaft zeitlupenartige Schrumpfen des Stiftstummels beobachteten, das uns eine erste dunkle Ahnung von der eigenartigen Freudlosigkeit und zähen Vergänglichkeit des Lebens gab? Heute schreiben wir unsere Texte in die Mäuler von Maschinen, weil auf diese Weise ihre „Verarbeitung“ schneller funktioniert.
7. März. Wenn Weisheit auf Wissen und Wissen auf Beobachtung beruht, müssten wir das Wachstum der Steine sehen können, um zu erkennen, wie wir weitermachen sollen. Das Seil, auf dem wir tanzen, wird dünner.
10. März. All dies wäre doch viel spannender, wenn es die Aufzeichnungen eines inhaftierten psychopathischen Massenmörders wären.
7. April. Am Ende des Weges lag das große Haus. Niemand ahnte, dass hier aus Zeit Dauer werden würde. Sozusagen eine Geschichte, die niemals anfing.
8. April. Wenn es wahr ist, dass die Vernunft die Religionen ablöst, und wenn ihre gesellschaftliche Funktion als Ethik der Fortschrittsideologie und die Wissenschaft als „Gottesdienst“ an diesem neuen Weltbild verstanden werden können, ist Isaac Newtons „Mechanik“ (Philosophiae Naturalis Principia Mathematica) von 1687 das erste Evangelium der Moderne.
12. Mai. Als Ayrton Senna am Nachmittag des 1. Mai in Imola starb, fiel die Sonne vom Himmel. N. und ich saßen fassungslos im „Brazil“ und soffen. Trauer, Resignation, Caipirinha. Wir beschlossen, nach Sao Paulo zur Beerdigung zu fliegen, das waren wir dem letzten Held der westlichen Welt schuldig. Und heute sind wir zurückgekommen. Zunächst mal mussten wir auf die Schnelle jede Menge Geld auftreiben, dann in Tegel das Flugzeug nach Frankfurt erreichen. Als wir um sechs Uhr morgens in Brasilien landeten, sahen wir auf dem Weg zur Passkontrolle das Personal an den großen Scheiben stehen. Draußen war gerade eine Maschine der brasilianischen Fluggesellschaft VARIG gelandet und unmittelbar vor unseren Augen wurde der schlichte Holzsarg mit der sterblichen Hülle einer Rennsportlegende auf eine Hebebühne gebracht. Mit militärischem Zeremoniell wurde er auf einem offenen Lastwagen aufgebahrt, inzwischen waren wir von Kamerateams umgeben, die live von Sennas letzter Heimkehr berichteten. Die Frauen weinten, die Flughafenbeamten verbargen ihre Augen hinter Sonnenbrillen. Wir nahmen uns ein billiges Hotel in der Innenstadt, sahen ein bisschen Live-Berichterstattung im Fernsehen und machten uns dann auf den Weg zum örtlichen Parlamentsgebäude, wohin der Sarg gebracht worden war. Im Park, der das Gebäude umgibt, waren Hunderttausende: Fahnen schwenkende Fans, Unmengen an weinenden Mädchen, Reporter, Würstchenverkäufer und ein Megaphon-Prediger in weißer Mönchskutte, dem wir auch in den nächsten Tagen immer wieder in der Fußgängerzone begegneten. Die Schlange der kondolierenden Senna-Anhänger war größer, als ich sie zehn Jahre zuvor auf dem Roten Platz am Lenin-Mausoleum erlebt hatte. Sie zog sich kilometerweit durch den Park, mäanderte über Brücken und Straßenkreuzungen; wir brauchten schon eine Stunde, um ihr Ende zu finden. Und es dauerte knapp drei Stunden, bis wir am Sarg waren, alle Menschen hielten sich an den Händen und einmal sank N. sogar eine schöne junge Dame ohnmächtig in die Arme. Auf dem Sarg lag der berühmte gelbe Helm, vor der Halle hatten die Fans zahllose Kränze und Andenken hinterlassen. Am nächsten Morgen war die Beerdigung auf dem Cemiterio do Morumbi, Millionen Menschen säumten die Strecke, die der Leichenzug nehmen sollte. Einen großen Teil dieser Strecke fuhren wir mit dem Taxi zum Friedhof, eine unwirkliche Szene, durch dieses Meer von Fahnen und Transparenten zu fahren, niemals zuvor hatte ich so viele Menschen gesehen. Als der Wagen mit dem Sarg, eskortiert von Motorradstaffeln, Reiterformationen und Polizeifahrzeugen, an uns vorüber kam, gingen wir die letzten Meter mit zum Friedhof. Die eigentliche Beerdigung haben wir nur als Zaungäste beobachten können, aber wir waren uns sicher, dass wir – trotz Jeans und Dosenbier – unseren Renngott würdig verabschiedet hatten. Überflüssig zu erzählen, wie uns am Ende das Geld ausging, wir die Hotelrechnung nicht bezahlen konnten und am Abreisetag zum deutschen Konsulat mussten, wo man uns Formulare ausfüllen ließ, aber nicht weiterhalf, woraufhin wir im Hotel über einen Cousin des Portiers, der in einer Bank arbeitete, doch noch meine EC-Karte einsetzen konnten und gerade so das Flugzeug erreichten.
24. Mai. Lebenslanges Schreiben ähnelt der komplizierten Operation, mit der man im alten Ägypten die Mumien zu präparieren pflegte: Mit einem langen Gerät zog man das Gehirn durch die Nase aus dem Kopf. Genauso zieht man seine Gedankenwelt Stück für Stück hervor, manchem gelingt diese Operation vollkommen.
29. Mai. Und wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, so würde ich heute noch ein Nickerchen machen. Nennt mich „Häuptling Lärm einer fallenden Feder“! Vive la trance!
30. Juli. Das stumpfsinnige, durch Nationalismus und Ideologie aufgeblasene Spektakel einer Olympiade der Gesunden ist ja für sich genommen schon eine die Epoche wunderbar widerspiegelnde Dämlichkeit ersten Ranges. Die gerade im hiesigen Olympiastadion abgehaltene Behinderten-Olympiade ist jedoch eine Steigerung, weil hier selbst noch die Krüppel, die Lahmen unter sich den Schnellsten ausmachen. Offener kann sich die Geschwindigkeits- und Rekordsucht, die zu völkischer Adrenalin- und Endorphinausschüttung herhalten muss, nicht zeigen.
4. September. In meiner Eigenschaft als Fahrer, der das Stadtmagazin Zitty stapelweise in diverse Kneipen bringt, habe ich neulich ohne fremde Hilfe mein Fahrzeug verschrottet. Die Reaktionen waren unterschiedlich. D. und N. fragten unabhängig voneinander zuerst: „Wieso?“ Was für eine Frage! Als ob ich einen Grund gehabt hätte, mit einem Bier in der Hand in einer Verkehrsinsel auf der Bundesallee einzuschlagen. Meine Mutter hingegen meinte, ich sei eben ein Sonntagskind, hätte wie sie ein gutes Herz, „auch wenn wir manchmal verrückt reden“, und darum würden wir solche Unfälle auch immer unverletzt überstehen.
5. September. Was für ein Traum: Ich war heute Nacht der Bürobote einer Frau Wortreich und musste zu Fuß quer durch die Stadt laufen, um eine Botschaft zu überbringen. Riesige alte Häuser versperrten oft den Weg, weitläufige Straßengabelungen führten um sie herum. So ging ich oft durch die Flure der Häuser, auch durch einzelne Amtsstuben oder bewohnte Zimmer hindurch, um nur ja den kürzesten Weg nehmen zu können. Es kam oft zu Gesprächen, sogar zu heftigen Auseinandersetzungen, bei denen man mich am Kragen packte und schüttelte. Nicht weil ich ungebeten durch fremde Räume lief, sondern weil man mich für den Überbringer einer lange erwarteten Botschaft hielt. Ich musste aber immer weiter. Einmal machte ich in einer türkischen Bäckerei halt, weil ich Hunger hatte. Ich bestellte eine große Teigrolle, die innen hohl und mit Zwiebelringen belegt war. Dieses Gebäck hieß „Maklerehrenwort“.
10. September. Verkaufe jetzt Halsketten aus Klo-Steinen an Touristen auf dem Alex. Läuft gut.
8. Oktober. Philosophisch betrachtet ist die Niederlage dem Sieg natürlich vorzuziehen. Das Problem ist eher, dass man so selten philosophisch drauf ist.
29. Oktober. Was ich gestern wohl gedacht habe, als ich nach einem Gelage in Lichtenberg noch ein wenig fern gesehen habe? Jedenfalls finde ich am Morgen Bissspuren auf der Fernbedienung, die Programmzeitschrift liegt im Mülleimer.
Elvis Presley – Always On My Mind. http://www.youtube.com/watch?v=d6_aEsFwQ9s
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