Donnerstag, 9. Oktober 2014
1996
Auszüge aus dem Notizbuch:
16. Januar, Berlin. Es klopfte. Erschrocken ließ ich das Buch fallen, in dem ich gerade las. Es klopfte erneut, es musste ganz in der Nähe sein. Ich blickte unter das Bett und tatsächlich lag dort ein älterer Herr in einem altmodischen Gehrock, der nun vorsichtig den Hut zum Gruße lupfte. „Guten Tag, ich bin Politiker“, begann er mit falschem Lächeln.
30. Januar. Hier folgen wir gerne: Die ultimative Trinkempfehlung fand sich auf dem Etikett eines 1994er Müller-Thurgau aus der Pfalz. Ihrem Charme konnte ich mich am heutigen Abend nur schwer entziehen: „Trinken Sie diesen Wein zu allen Gelegenheiten.“
31. Januar. Du kannst nicht gewinnen. Dennoch lohnt sich der Kampf, er ist selbst Lohn genug.
2. Februar. Die verzweifelte Suche nach einem Muster führt zu den seltsamsten Ideen. Ganz Verworrenes nennt sich Weltanschauung.
23. März. Eine Woche voller Spaziergänge in Paris. D. und ich haben eine winzige Wohnung in einem Haus aus dem 17. Jahrhundert gemietet. In der Nähe ist das Centre Pompidou, eine ihre Adern und Gedärme offen präsentierende Kulturfabrik. Das Marais-Viertel mit seinen Palästen, alles erscheint voller Geschichte, dunkler Größe und geheimnisvoller Verschwörungen, eine Welt für Männer mit großen Hüten und schlanken Degen. Die Friedhöfe von Montparnasse und Père Lachaise, die düsteren Katakomben mit den Millionen namenloser Toten, die diese Stadt erbaut haben. Marmor und Säulen im Pantheon, verschwenderische Weite und antike Lust an der Pracht.
1. April. Mein erster richtiger Arbeitstag als Wissenschaftler, müde betrete ich am Morgen die schmale dunkle Dachkammer, die man mir zugewiesen hat. Das kleine Fenster in der Dachschräge zeigt nach Norden, unter mir breitet sich ein Fabrikgelände aus. Ein seltsam melancholisches Gefühl erfasst mich beim Blick nach draußen, so als wäre ich nun auf ewig hier verloren. Am Nachmittag wird das neue Türschild mit meinem Namen angebracht (seit einem Monat bin ich „Dr. Eberling“), jeden Morgen staune ich es an. Bin ich als Kanzleibeamter in Kafkas „Schloss“ gefangen? Wie naiv der Gedanke, hinein gelangen zu wollen. Süße Sehnsucht, süßes Scheitern. Im Inneren der Schlossmauern beginnt das eigentliche Leiden. Kafka wusste es, als er den Weg dorthin schilderte. Heute begreife ich ihn wirklich. Wie wäre es, wenn ich im grauen Kittel unten auf dem Hof stünde und, die Hände auf den Besen gestützt, leichthin ein Gespräch mit einem Dienstmädchen anfinge?
8. April. Es war früher Morgen, als E. ankam. Die Behörde lag in tiefem Schnee. Von der Stadt war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben sie, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete die weitläufige Siedlung an. Lange stand E. am Fenster seines Dienstzimmers und blickte in die scheinbare Leere hinab.
19. April. Traum: Ich stehe auf einem Hügel, es ist Nacht und ich blicke über Berlin. Ein großes Flugzeug stürzt brennend auf die Stadt, dann ein kleines. Die Erde öffnet sich und es geht hinab. Schließlich finde ich mich in einem Zug wieder. Die Schaffnerin erscheint und ich habe keine Fahrkarte. Ich frage, wo ich mich befinde. Sie sagt, ich sei in der DDR und es sei 1972. In der nächsten Stadt steige ich aus. Auf den Straßen stehen Schreibtische, man fragt nach meinen Papieren. Später bin ich in einem Badezimmer und sehe, wie unzählige Insekten aus dem Abfluss des Waschbeckens emporquellen und davonfliegen.
21. April. Nein, schreib nicht „Es ist 12:30 Uhr und gerade habe ich eine Linsensuppe gegessen“, sondern „Lob des Linsengerichts“, das ist Literatur, das klingt schon so, das ist geheimnisvoll und verlangt nach mehr.
2. Mai. Venedig erinnert mich an den Amazonas: Seitenarme von Seitenarmen des Flusses, verwunschen, unergründlich. Die Gassen sind ein Abenteuerspielplatz, immer wieder öffnet sich das Labyrinth zu einladenden Plätzen. Bologna: Die Häuser sind in sonnigen Farben, gelb, orange und rot, bemalt. Gestern in Imola in der Tamburello, der Kurve des Autodromo Enzo e Dino Ferrari, wo Senna vor zwei Jahren starb. Fahnen, Blumen, Frauen in Schwarz, manche verewigen sich mit Edding an der Mauer.
7. Juni. Wenn man alle Folgen der Kriege nachzeichnen wollte, wäre am Ende alles, was man gemeinhin Geschichte nennt, das Ergebnis von Gewalt.
18. Juni. Irgendwann fällt einem Künstler nichts mehr ein und er wiederholt sich. Das nennt man dann „eigenen Stil“.
26. Juni. Du sitzt in einem Wartezimmer. Gelegentlich öffnet sich die Tür des Sprechzimmers und ein Name wird hinaus gerufen, ohne dass man ein Gesicht sieht. Deiner ist nie darunter, du sitzt also ewig und wartest.
23. Juli. „Keine Macht den Drogen“ heißt eine Regierungskampagne. Selten haben die Mächtigen ihre Ziele so offen formuliert: totale Macht über die Menschen. Fleiß, Disziplin und Gehorsam sind ohne Nüchternheit nicht zu denken. Drogensüchtige sind schlecht auszubeuten bzw. zu beherrschen und Drogenhändler zahlen keine Steuern.
2. August. Essen und Trinken: In diesen elementaren Dingen bin ich nicht bereit, der Vernunft zu folgen. Das Gelage als Anschlag auf das Imperium der Vernunft.
14. August. Mit D. in Rheinsberg, sie hat mir diesen Ausflug um Mitternacht zum Geburtstag geschenkt. Das Schlösschen war bis vor einigen Jahren noch ein Sanatorium. Im Ort selbst Osthässlichkeit, der Westen hat nur eine dieser toten abstoßenden Einkaufspassagen mit dem ewig gleichen Mist abgeworfen. Ein Imbiss bietet Pferdebockwurst an.
15. August. Ständige Erreichbarkeit und permanente Information erhöhen nur den Stress. Nicht erreichbar zu sein, nichts zu wissen, die Unschuld der Ahnungslosigkeit ist so süß, vergessen, nicht da gewesen, geträumt, vorbei, etwas ist geschehen und du bist nicht daran schuld.
24. August. Und irgendwann … ja, irgendwann kommen sie dann … die weißen Männer … und sie werden mich mitnehmen, alles abschalten, abbauen, dann ist es zu Ende …
2. September. „Meine Dunkelheit wird eure Sonne löschen“. Chinesisches Sprichwort, friesische Bauernweisheit oder einfach so selbst ausgedacht?
16. September. Ein Selbstmörder klingelt im zehnten Stock. „Guten Tag, darf ich mal ihr Fenster benutzen?“
17. September. R. hat bei ihrem Besuch zwei interessante Ex-Ingelheimer im Schlepptau. Zum einen Wambo, ein gefährlich aussehender Fleischberg im Piratenlook mit Kopftuch und Ohrringen, tätowiert, Haarbüschel wachsen dort heraus, wo die Kleidung endet, war schon in der Hoppla (Nervenheilanstalt) und ist als Junkie mal in Bangkok versackt. Zum anderen Jörgi, ein Mann ohne Hände. Ich hatte es bei der Begrüßung nicht bemerkt und erschrak, als er mir die Hand gab und ich eine Plastikhand ergriff. Seine andere Hand ziert ein Haken. Er hat als Sechzehnjähriger mit Sprengstoff experimentiert, eine Explosion riss ihm beide Hände ab. Mit den beiden hätte man mühelos, ohne Kostüme und Schminke, die Rollen der Bösewichte in einem Hollywood-Film besetzen können.
21. September. Deutschland einen Monat ohne Sedativa, ohne Alkohol, Drogen und Tabletten – unvorstellbar, wir würden uns gegenseitig zerfleischen. Dieses Leben ist ohne Hilfsmittel weder zu schaffen noch auszuhalten.
22. September. Als ihm alles egal wurde, begann er, auf dem Seil zu rennen. Natürlich würde er irgendwann abstürzen, soviel war klar. Es war nur wichtig, es so aussehen zu lassen, als hätte er keine Schuld daran. Das Unglück musste ihn treffen, niemand durfte wissen, dass er es gesucht hatte.
24. September. Beim Mittagessen sitze ich noch mit französischen Professoren zusammen, die ich in den vergangenen Tagen während einer Tagung kennengelernt habe, abends sitze ich mit einer Dose Bier an einem Brunnen in Paris und unterhalte mich mit zwei sudanesischen Kriegsflüchtlingen. Sie finden es unverantwortlich, wie man die Plätze so verkommen lassen kann und mit Abfall besudelt. Sie erzählen von ihrer Heimat, sie hätten Kühe gehabt und seien glücklich gewesen. Hätte es etwas zu feiern gegeben, sei immer genug zu essen und zu trinken da gewesen. In Paris wollten sie sich manchmal die ungewohnten Kleider vom Leib reißen.
3. Oktober. Ein Schulkind in den Nachrichten zur deutschen Einheit: „DDR? Das war ein Fernsehprogramm.“
14. Oktober. Die fünf Gegenreiche der im Mittel-Zweck-Denken und ökonomischem Handeln befangenen Vernunft: das Spiel, die Kunst, die Liebe, der Rausch und der Wahnsinn. Wer sich, zumindest zeitweise, nicht in diese Territorien zu retten vermag, dem bleiben nur Zerstörung und Selbstzerstörung.
22. Oktober. Nur noch ein letztes Glas Whiskey, es macht den Kopf klar und den Geist weit, es schärft die Sinne und gibt mir Mut. Ich trete hinaus, das Seil spannt sich von der Türschwelle in die Ferne. So erwarte ich es und so wird es sein; meist geht es etwas aufwärts, was die Übung erschwert. Das Ende des Seils ist nicht zu erkennen, aber gerade diese Ziellosigkeit ist mir ein Trost, so seltsam es klingen mag. Jedes Glas macht es mir zugleich schwieriger und leichter, hinaus auf das Seil zu treten. Der erste Schritt ist naturgemäß der schwierigste, aber ich brauche das. Das Gehen ohne Seil ist mir zu banal, es ermüdet mich maßlos und dann bleibe ich einfach stehen. Das Seil gibt mir aber Kraft und Halt, wenn ich mich denn hinauf traue, was keineswegs gesichert ist. Und der Whiskey gibt mir die Kraft, mich auf das Seil hinauf zu träumen. Er hält mich aufrecht und verhindert, dass ich hinunter schaue. Das Gelächter des Publikums würde mich augenblicklich töten.
23. Oktober. Was würdest du schreiben, wenn du nur noch zehn Worte übrig hättest? Gibt es eigentlich eine Auszeichnung für das Ungesagte?
2. Dezember. „Bei riesigen Nebenwirkungen lesen Sie die Sonntagsbeilage oder fragen Sie ihren Azteken.“
24. Dezember, Schweppenhausen. Weiße Weihnachten, der Himmel besteht aus Myriaden von Puzzleteilen, eingefasst wie Edelsteine vom schwarzen Geäder der Bäume. Unmittelbar vor der Fensterscheibe entdecke ich eine erfrorene Rosenblüte. Aus all dem toten Gestrüpp windet sich die fleischfarbene Knospe dem erstaunten Betrachter entgegen. Wolltest du zu mir, möchtest du mir etwas sagen? Ich bin wohl zu spät gekommen. Nun sitze ich hier und schaue dich an, während du dein kaltes Haupt gegen mein Fenster lehnst. Welcher Sonnenstrahl mag dich verführt haben, dass du deine geringen Kräfte an diesen Frost verlieren musstest? Oder wolltest du einfach in das warme Haus hinein wachsen?
27. Dezember. Verlockung des Verbrechens, Verlockung des Krieges: die schnelle Veränderung. Geschwindigkeit kann so trügerisch sein. Auch die moderne Art des Reisens, der Kurztrip, bewegt sich in dieser Dämonenwelt: In global genormten Transiträumen lassen wir uns für ein paar Kinogroschen unsere Vorurteile und Erwartungen bestätigen.
31. Dezember. Ewig ist nur das Sinnlose, alles andere hat ein Ende. Manches endet in Würde, manches im Schmerz, mal ist es belangloses Verrinnen, mal dramatische Zerstörung. Und so, trinkend und schreibend, vergeht mein Jahr 1996.
Peter Gabriel – Wallflower. https://www.youtube.com/watch?v=D04KqzH8480
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen