Sonntag, 26. Oktober 2014
Durstige Männer
Wenn man endlich beschlossen hat – einen Grund für diesen Beschluss gab es übrigens nie -, sich schon mittags zu betrinken, braucht man dazu einen Ort, wo dieses Ansinnen nicht von missbilligendem Staunen seitens des Wirts oder der Gäste begleitet wird. Niemand braucht Aufregung und Widerspruch bei diesem Vorhaben, Ruhe und ein Minimum an Entschlossenheit sind notwendig, um sich endlich auf den Weg machen zu können. Also gingen wir in die heruntergekommenste, hässlichste und versiffteste Kneipe der Stadt: die „Super-Maggy“. Es war der trostloseste Ort auf diesem Planeten, den ich je betreten habe. Hier hätte selbst Dante geschwiegen. Keine Ahnung, warum der Laden so hieß. Eine Hommage an eine Frau? Dann strotzte der Namen nur so vor Fehlern. Irgendwie dachte man an Maggi oder Magie. Sei’s drum. Hinein in die modrige Höhle, in der trotz vorgerückter Stunde noch die Rollläden unten waren. Wir bestellten die erste Runde Weizenbier und Obstler.
Der Wirt machte einen schmierigen, kaputten Eindruck, in der Tat gab es schon zwei Jahre später weder diesen Wirt noch die „Super-Maggy“. Er trug die Gläser, noch traumblöde vom Restalkohol des Vortags, einzeln und mit beiden Händen an unseren Tisch. Er musste tatsächlich beide Hände nehmen, um das bockige Weizenbierglas in seinen zitternden Griffeln zu bändigen. Aus der Jukebox tönten Lieder, die niemals in irgendwelchen Charts auftauchen werden und nur für solche Kneipen wie diese unsere gegenwärtige geschrieben worden sind, weil sie hier einfach am besten hinpassen. „Einer ist immer der Loser“, lautete der trostlose Refrain, „einer muss immer verlieren“. Tja, und die Zielgruppe dieser Zeilen war augenscheinlich hier versammelt: hinter und vor dem Tresen (dort lungerten die üblichen Alkoholiker unbestimmten Alters herum, fettige wie angeklebt oder aufgemalt wirkende Haare, grobporige fleckige Haut, von rotem Geäder ziseliert, speckiges braunes Cord-Jackett, den Kopf stumm gesenkt und ins Glas starrend) sowie an unserem Tisch. Im Hintergrund zwitscherten die einsamen Daddelautomaten ihre sinnlose Melodie, Lockrufe im elektronischen Urwald. Noch blieb ihre Balz ohne Erfolg.
Ich ging hinaus, um dem durch das erste Bier motivierten Morgenurin freien Lauf zu lassen. Die Toilette war eine Kloake, knöcheltief watete man in einer halbschleimigen Mischung aus Urin, Kotze und Dreck. Von Ferne hörte ich immer noch das deprimierende Lied aus der Musikmaschine. So beginnt immer alles: Ich sitze mit ein paar Freunden in der „Super-Maggy“ und sie spielen das Lied. Natürlich bin ich ein Loser. Wem wollte ich in dieser Frage ernsthaft widersprechen? Aber hier kann ich Loser sein. Denn ein Loser mit ein paar Geldscheinen in der Tasche ist in den Augen der anderen Loser natürlich ein Alphatier, Gott über die nächsten Thekenrunden Ouzo oder was auch immer. Selig sind die Trinker, denn ihnen wird das Erdreich sein.
Als ich zurück kam, begrüßte mich Duffy, einer der traurigen Todeskandidaten an der Theke – die ersten Aktivitätsflecken hatte das Bier schon an Hals und im Gesicht entflammt – mit dem Spruch: „Bist gerne mit deinem Schwanz alleine oder was?!“ Was ich lässig mit einem „Gehänge wie ein Shetland-Pony. Will hier niemanden deprimieren“ konterte. „Himmelarschsackzement“, so der unentschiedene Kommentar von einem weiteren Thekenbewohner, halb ironisch, halb den Wortwitz des Dialogs anerkennend. Schließlich wollte hier keiner was auf die Schnauze zu dieser frühen Stunde. Aber es geht uns gut. Wir sind alle eine große Familie. Und deswegen konnte ich es wagen, mit ein paar Münzen einen neuen musikalischen Weg an der Jukebox einzuschlagen: „Blue Monday“ von New Order.
Gibt es eigentlich irgendjemand, der noch hier sitzen würde, wenn es einen anderen Platz gäbe? Hätte ich 5000 Euro auf dem Konto, würde ich doch nicht in der „Super-Maggy“ sitzen, sondern in einer Bar in Rio. Eine nubische Göttin würde mir einen blasen, während ich mir armlange Lines Koks vom Tresen in die Birne zöge. Dieser von mir geäußerte Gedanke wurde von meinen Begleitern, Django und Dirk, mit anerkennendem Lächeln bedacht. Während Django zu einer Antwort anhob, winkte ich dem Wirt mit meinem leeren Bierglas zu und machte mit der anderen Hand eine kreisförmige Bewegung, die andeuten sollte, es handele sich hier um eine ganze Runde Bier, die zu bestellen sei. Um uns das immer gleiche trübe Licht und die Rauchschwaden – ein Wort, das man in diesem Loch nur noch als „Rauschwahn“ lallen konnte.
„Wenn ich Geld hätte, würde ich ein fettes Haus mieten und jeden Tag eine abgefahrene Party machen“, erklärte Django, der seinen bescheuerten Spitznamen seinem pubertären Leichtsinn, namentlich seiner damaligen Vorliebe für Italo-Western, zu verdanken hatte. Er hatte ähnlich schmierige schwarze Haare wie der Wirt, trug sommers wie winters ausnehmend hässliche kurze Jacken in allen Variationen von Grau (oder heißt es: des Grauens?) und hatte eine nervenzerfetzend quäkende Stimme. Schon näherten sich die nächsten Biere, wiewohl der Wirt durch das Lokal wie durch schwere See schlingerte. Immerhin schon zwei Gläser auf einmal. Offenbar hatte sich der berufsmäßige Gastgeber selbst bereits etwas gestärkt. Aufgrund seines gefassten und ruhigen Eindrucks konnte ich es wagen, noch eine weitere Bestellung aufzugeben und alsbald wurden noch ein paar Obstbrände gereicht.
„Dann reicht es ja, wenn du Geld hast“, nahm Dirk den Gesprächsfaden wieder auf. „Und ich komme dann eben einfach jeden Tag bei dir vorbei“. Dirk hatte sich bereits in jungen Jahren den Spitznamen „Die Trinkmaschine“ erworben, zog es aber vor, mit seinem kurzen Taufnamen gerufen zu werden. Er war für die gewaltigen Mengen Bier und Schnaps, die er zu verzehren bereit und in der Lage war, erstaunlich schlank, ja geradezu drahtig. Er führte dies, wenn er auf diesen Umstand angesprochen wurde, auf den Unterschied zwischen Magen- und Lebertrinkern zurück. Die zukünftig durch Leberzirrhose vernichteten Existenzen wirkten immer dünn und gelblich-fahl, die dem Magendurchbruch zum Opfer fallenden Kollegen seien hingegen aufgedunsen und rotbäckig-verschwitzt. Er selbst sei eben ein Lebertrinker und daher gehe das dann auch so wie es sei „in Ordnung“. Und schon hing sein strohblonder Schnurrbart wieder im Weizenbierglas, aus dem er mit geschlossenen Augen große Schlucke in sich hineinsog.
Kurze Zeit später kam Diego hinein, sein Jogging-Anzug leuchtete weiß und war vergleichsweise sauber. Ouzo-Trinker sehen einfach immer gut aus. Wir nannten ihn Diego, weil er so schlecht Fußball spielen konnte. Er lebte allein in einem winzigen Häuschen am Bahndamm, das ihm seine verstorbenen Eltern hinterlassen hatten. Und in der Tat setzte er sich zu uns an den Tisch und machte eine kurze Handbewegung, die den Wunsch nach einem Ouzo und einem Bier signalisieren sollte. Schweigend und mit gesenktem Haupt wartete er auf seine Bestellung. Diego redete erfahrungsgemäß erst nach einigen Runden und dann meist kryptisches Zeug. So erklärte er einmal, keine Litauer zu mögen. Keiner von uns war je in Litauen gewesen noch würde er je hinkommen, keiner kannte Litauer, die sich einfach nicht in unsere Kleinstadt verirren wollten. Dennoch war es Diego immer ein Bedürfnis, die Quintessenz irgendwelcher hirnschwurbeligen Überlegungen zum Besten zu geben. Wie er darauf kam, hatte er vergessen und wir wollten es auch nicht wissen. Die Höflichkeit gebietet es mir, den Ausdruck nicht zu verwenden, aber Django bezeichnete Diego in dessen Abwesenheit gerne als „asoziales Stück Rattenscheiße aus der Gosse“.
Nun betrat Eberhard das Etablissement. Obwohl wir selbst nur Sozialhilfeempfänger sind, ist dieser kleine, langhaarige, in erdfarbenes Zeug wie etwa den obligatorischen Bundeswehrparka gehüllte Mann mindestens eine Stufe unter uns. Denn er hatte bereits jegliches Gefühl für Anstand und Würde verloren und schnorrte hemmungslos all die anderen Loser an, die er im Laufe des Tages in der Stadt traf. Ich scheue mich nicht, von Anstand oder Würde zu sprechen, auch wenn ich mich damit in den Augen mancher Zeitgenossen bereits gefährlich dem finsteren Reich der bürgerlichen Reaktion nähere. Im Prinzip war die gesamte weitläufige Umgebung unseres netten Kurstädtchens ein Minenfeld zorniger Gläubiger, denen Eberhard aus dem Weg gehen musste. Dennoch trieb es ihn jeden Tag wieder hinaus, neue Gläubiger zu gewinnen und alte zu beruhigen, ja gelegentlich auch Teilsummen zur Auszahlung zu bringen, um hier bereits die Basis für neuerliche Bettelattacken zu legen. Zwanzig Euro zurück zahlen, zechen und sich zur Begleichung der Rechnung eine Stunde später zehn Euro leihen – das war Eberhard. „So lend me ten pounds and I buy you a drink“, wie es bei den Pogues heißt. Und wie immer hatte dieser gefährliche Geselle natürlich seinen schwarzen Köter dabei, dieses wandelnde Milbennest.
Man kann auch mit Stil Sozialhilfeempfänger sein. Im Winter lasse ich es mir beispielsweise nicht nehmen, auf den dreißig Metern von meiner Wohnung zum Einkaufszentrum Handschuhe anzuziehen, nur um sie sogleich mit einer manierierten Geste, die meine gelangweilte blasierte Selbstzufriedenheit dokumentieren soll und die vermutlich selbst Oscar Wilde ein anerkennendes Zucken der Augenbraue abgerungen hätte, im Aldi wieder auszuziehen. Wir beschlossen, durch diverse Biere und Schnäpse mutig geworden, eine Expedition zur Bahnhofskneipe zu wagen, die auf den schönen und rätselhaften Namen „Distant Smile“ getauft worden war. Eine tiefergehende Begründung für diesen Ortswechsel gab es nicht. Er war auch nicht nötig. Wir hatten einfach das Gefühl, es müsse jetzt weiter bzw. woanders hin gehen. Im Hinausgehen schmetterte ich Eberhards offensichtliches Ansinnen mit einer souveränen Geste ab, bevor er noch das Plärrloch öffnen konnte.
Ich wollte selbst mal eine Gaststätte mit dem Namen „Die einzige Kneipe, die man vom Weltraum aus sehen kann“ eröffnen. Am Tresen brummen die zehn stadtbekannten Profi-Alkoholiker, von denen ich mich leidlich ernähren würde, wie tibetanische Mönche bei ihren gemeinsamen Zeremonien. Ommm ... nur gelegentlich unterbrochen von wichtigen Sportübertragungen im Fernsehen. Könnte ich vom Alkoholismus meines Freundeskreises leben? Quasi als ewiger Mittelpunkt einer endlosen Party? Wie lange würde das gut gehen? In der Gastronomie finden Kapitalismus und Entropieprinzip zueinander: Alles muss schnell genossen werden, weil es dem Gleichgewichtszustand der aktuellen Raumbedingungen zustrebt. Kohlensäure verfliegt, Eiswürfel schmelzen, Bier wird schal, Suppen, Schnitzel oder Kaffee werden kalt. Langwierige Rituale des Genusses widersprechen eigentlich der Schankordnung und überhaupt der Ordnung unserer Gesellschaft. „Trink, sonst sind die Blubberbläschen gleich weg!“ So sprachen unsere Eltern zu uns. Meine Kneipe wäre ein Ort des langsamen Genusses. Viele kleine Biergläser, immer neue Eiswürfel, eine Mikrowelle im Gastraum zur erneuten Erwärmung der Speisen, Briefkästen für Stammgäste – da könnte man sich einiges einfallen lassen.
(aus „Die singende Fleischwurst“ von Rondo Delaforce)
Manfred Mann’s Earth Band – Tribal Statistics. http://www.youtube.com/watch?v=7Tmfvhx31U4
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Ja, lesen tut man so was immer wieder gerne.
AntwortenLöschenEgal ob bei Henscheid, Fauser oder bei Dir.
( Sorry, mehr schleimen geht nicht ! ) Ja, hab's gelesen, ist von Delaforce !
Aber wenn man es selber erlebt, tut es einem einfach nicht so gut. Ich kenne die beschriebenen Szenen nur zu gut. Auch die passende Lokalitäten. Alles schon gesehen, gerochen, getrunken und erbrochen.
Es zieh einen so was von runter. Und die Typen nerven irgendwann derart. Und die Verzweiflung wächst und wächst.
Nein, es ist nicht erbaulich, es am eigenen Leib zu erfahren. Und die Schlachtenbummler aus dem intellektuellen Milieu, die doch ach so gerne auch mal dazugehören wollen, die sich an die Stammtische ranwanzen, die denken, sie würden das alles auch so gut verstehen. Geh mir weg !
Ne, ich kenne massig derartige Kneipen bei mir im Biotop. Ich werde nie auch nur einen Schritt mehr da reinsetzten.
Schon aus Respekt vor den dort Lebenden. ( noch Lebenden )
Danke für die Blumen. Es wird dich hoffentlich beruhigen, dass es Duffy, Diego, Django und Dirk auch heute noch gut geht - trotz ihres immer noch beträchtlichen Konsums alkoholischer Getränke. Nur die Spur Eberhards, eines WG-Genossen meiner Zeit in jenem "netten Kurstädtchen" namens Bad Kreuznach, hat sich verloren.
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