Donnerstag, 16. Oktober 2014
1998
Auszüge aus dem Notizbuch:
11. Januar, Berlin. In heiterer Demut wartet man, dass der Teller und das Glas wieder gefüllt werden. Fördernd ist Beharrlichkeit, wie es oft im I Ging heißt. Wie schnell hast du dich durch so ein Leben gestohlen, ein Sumo-Ringer auf Samtpfoten.
12. Januar. Die Vorstellung, an Menschen wüchsen Misteln, die sie langsam erwürgen. Welche Namen trügen diese Misteln?
13. Januar. Nie mit viel gerechnet zu haben, mag sich im weiteren Verlauf als Vorteil herausstellen.
16. Januar. Einmal am Freitagabend durch sämtliche Fernsehkanäle geschaltet und was sehe ich: Fast ausschließlich Menschen im Großformat beim Quatschen. Diese eitle Selbstbespiegelung, Wortabsonderungsmaschinen in einem absurd monotonen Alltag, als wäre Schweigen wie Krätze. Nicht auszudenken, wenn plötzlich alle ins Grübeln kämen …
25. Januar. Sieht immer gut aus: schwarze Gegenstände auf schwarzen Tischen.
Der Durchsichtige wirft keine Schatten.
Z. ging die Straße hinunter. Die Leute erkannten ihn. „Hey, da kommt der Zeitmann“, rief einer. „Gib mir Zeit“, ein anderer. Doktor Z. zückte seinen Rezeptblock und schrieb: „Vier Stunden auf der Couch, wahlweise mit einer Schachtel Pralinen, einer guten Zigarre oder einer Flasche Cognac.“
18. Februar. Womöglich ist alles, was neu ist, erst einmal klein, hässlich und völlig nutzlos – so wie Kinder.
8. März. Die Staatsverfassung der Zukunft wird ein Handbuch mit dem Titel „Wenn die Computer ausfallen“ sein.
20. März. Die Ankunft des Castor-Behälters im „Zwischenlager“: Wie von einer Mondlandung wird berichtet. Und die Inszenierung: Das Ballett der Demonstranten und Polizisten.
19. April. Ob man nun das Glas als halbvoll oder halbleer bezeichnet, ob eine positive oder negative Sicht der Dinge vorherrscht – Blödsinn! Die Flasche wird immer leerer und das ist bedrohlich. Also kein Grund für Optimismus …
2. Mai. Idee für ein Bild: Hünenhafte Männer auf viel zu kleinen Stühlen.
27. Juli. Ich fordere mehr Geschwindigkeit, niemand soll uns aufhalten. Alle Ampeln auf Grün!
2. August. Auf meinem Grabstein sollte stehen: „Ihr habt mich alle gewarnt.“
18. Oktober. Das Pioneer-Hotel in Little Italy, New York, macht seinem Namen alle Ehre. Hätte ich einen Revolver, könnte ich die Kakerlaken von den Wänden schießen. Der Portier sitzt in einem vergitterten Verschlag, er traut niemandem. Das Hupen und Schreien unten auf der Bowery lässt uns nicht einschlafen. Empire State Building, Central Park, Harlem, mit der U-Bahn in die Lower East Side, wo wir vietnamesisch essen. Ein Abstecher führt uns nach Brooklyn. Sein Name ist Larry. Nicht witzig?
Dann ein paar Tage bei einer Freundin in Boston, bevor es in die Wildnis geht. Kleine Kieferwäldchen und unberührte Hügel, Felsen und Küstennebel: der Arcadia-Nationalpark. Im Baxter State Park wird man am Eingang registriert, als würde man ein anderes Land betreten – falls nach uns gesucht werden muss. Die leuchtenden Farben des Indian Summer, herrliche Waldseen und Gebirgsbäche, die sich durch Stromschnellen ins Tal ergießen. In den White Mountains überqueren wir Wildbäche von Stein zu Stein oder auf Baumstämmen. Wir sind auf Wildwechseln unterwegs, Wanderwege gibt es überhaupt nicht. Es geht buchstäblich über Stock und Stein, Wurzeln und Felsbrocken bilden die unregelmäßigen Stufen des Weges, etwa alle fünfzig Meter weist eine Farbmarkierung an einem Baum die Richtung.
Wir besichtigen Ben&Jerry’s Eiscremefabrik in Vermont und sitzen auf Cape Cod am Atlantik. Zurück bei K. in Boston erfahre ich im Lesesaal der Harvard-Bibliothek vom Machtwechsel in Deutschland. Die Ära Kohl ist zu Ende, als wir am 11. Oktober nach drei Wochen in Amerika wieder in Berlin landen.
21. November. Gentechnik: Indem wir den Planeten neu erfinden, zerstören wir ihn.
12. Dezember. Alles in Berlin ist entweder unfertig oder es verfällt.
20. Dezember. Abendfarben: Dunkelblauer Himmel, goldene Fenster, schwarze Häusersilhouette.
Cinerama – Your Charms. http://www.youtube.com/watch?v=vD96H18YtC8
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