Samstag, 16. Dezember 2023

Bürgergeld

 

Den ganzen Politiker und Stammtischexperten, die das Bürgergeld kritisieren und gegen eine Erhöhung sind, empfehle ich, mal einen Monat von diesem Geld zu leben. Eine Freundin aus Berliner Tagen war 2007 Hartz-IV-Empfängerin. Sie hat mir Jahre später von ihrem Alltag erzählt:

Die Freundin ruft an. Samstag Mädelsabend in einer schicken Bar. Kommst du mit? Damals lag der Tagessatz bei elf Euro. Für Essen, Trinken und alles andere. Soll man den ganzen Tag nichts essen, um abends zwei Gläser Wein trinken zu können? Geht nicht. Also hat sie abgesagt.

Sie geht an einem Modegeschäft vorbei und sieht im Schaufenster ein schickes Kleid oder eine Bluse, die ihr gefällt. Kann sie sich nicht leisten. Ein neues Paar Schuhe, weil die ganzen alten Schuhe schon abgelatscht sind? Vergiss es. Von einer Handtasche müssen wir hier gar nicht reden.

Der neueste Kinofilm? Ein Rockkonzert? Theater? Kultur streichst du als erstes. Sie wohnte damals in einer WG in Kreuzberg. Du gehst an deinem Lieblingsitaliener im Kiez vorbei, an deinem Lieblingsinder, deinem Lieblingsthailänder, an deiner Dönerbude. Kannst du alles vergessen.

Ein Toastbrot kostete damals bei Aldi sechzig Cent. Zwanzig Scheiben Billigbrot. Die billigste Flasche Wein bekommst du für 1,99. Ansonsten trinkt man sowieso nur Leitungswasser. Sie kennt diese Zahlen, über die sie sich vorher keine Gedanken gemacht hat. Sie hat das Gefühl, Sonderangebote werden nur für Menschen wie sie gemacht.

Ihre Freundinnen wollen am Wochenende an die Ostsee. Rügen oder Usedom. Kommst du mit? Absurd. Sie könnte sich noch nicht mal eine Nacht in der ranzigsten Pension in Binz leisten. Soll sie über ihre Armut sprechen? Sich von ihren Freundinnen einladen lassen, als wäre sie Aschenputtel? Bei jedem Bier ein schlechtes Gewissen haben? Also täuscht sie eine Erkältung vor.

2008 hat sie endlich einen neuen Job. In Ulm. Vom Nordosten Deutschlands in den Südwesten. Hinter Ulm kommt noch der Bodensee und dann ist die Welt zu Ende. Sie kennt niemanden in dieser Stadt, aber Hauptsache nicht mehr Hartz IV. Dann kommt 2009 die Bankenkrise, die Wirtschaft bricht ein – und sie wird wieder arbeitslos. Der Horror holt sie wieder ein. Diesmal jedoch in totaler Einsamkeit und nicht bei ihren Freundinnen und Freunden in Berlin.

Aber ihre Geschichte hat ein Happy End. Sie ergattert einen krisensicheren Job in Frankfurt, macht Karriere, findet Mr. Right und wohnt heute mit ihm in einer schicken Eigentumswohnung im Westend. Aber das Jahr in der Hölle hat sie nie vergessen. Diese Narbe bleibt.

Ich habe damals mal versucht, einen Monat wie sie zu leben. Habe mir 360 Euro ins Portemonnaie gepackt und auf alles verzichtet. Die erste Woche war ich noch tapfer. Was sie kann, kannst du auch, habe ich mir gedacht. In der zweiten Woche war ich nur noch wütend. Was für ein Scheißleben! Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten. Ich bin ins nächste Steakhaus. Gebt mir ein großes, blutiges Stück Fleisch! Nein, ich will nicht zur Salatbar! Danach habe ich mich an einen Tresen gekettet und ein Bier nach dem anderen getrunken. Am Ende der zweiten Woche war das Geld alle. Dieses Sozialexperiment empfehle ich allen Klugscheißern in den Talkshows und Parlamenten.

4 Kommentare:

  1. Jaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa, Mooooooooooooooooomeeeeeeeeeeeeeeeeeent mal, würden Rechte und Lieberale jetzt sagen, wahrscheinlich hat der Dame die Lektion in Elend namens Hartz IV erst die rechte Motivation verschafft, in die Socken zu kommen...

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    1. Da hast du natürlich völlig recht :o)))

      Bonus-Info: Besagte Dame wiegt über hundert Kilo. Da sind die paar Euro schnell verfuttert. Zum Glück war sie Nichtraucherin und hatte auch keinen Hund.

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  2. Keine Ahnung, seit wie langer Zeit ich schon von so wenig Kohle lebe, ich kenne das schon gar nicht mehr anders. Ist mir im Prinzip auch schnuppe. Hab ich mir schließlich so ausgesucht, das Leben, anders als deine Bekannte 2007. Mir war die Zeit für mich immer wichtiger als die Kohle. Aber es gibt Ausnahmen. Wenn der Hund vor einer wichtigen und teuren OP steht, muss man schon zufällig irgendwo ein paar Hunderter gebunkert haben. Sonst muss er eben zu den Sternen. Mit anderen Worten: wenn es dringend wird, brauchst du entweder Familie oder eine intakte Freundschaft.

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    1. Ich bin auch heilfroh, dass ich meine kostbare Lebenszeit nicht mit irgendeiner Berufstätigkeit verschwenden muss. Hier in meinem Elternhaus lebe ich umsonst, weggehen kann man hier im Dorf nicht, Auto habe ich sowieso keins und da ist das Leben eigentlich ziemlich günstig.

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