Dienstag, 5. Dezember 2023

Nachts im Zug

 

Die Sonne ist längst untergegangen und ich sitze allein in einem Erste-Klasse-Abteil im ICE nach Berlin. Die ganzen emsigen Geschäftsleute, die ansonsten die Fernzüge bevölkern, sind sicher schon längst zuhause. Vor dem Fenster nichts als Finsternis, eine unbekannte Welt, ein feindlicher Planet, von dem ich durch die Geschwindigkeit des Zugs getrennt bin.

Ich denke an eine andere Fahrt zurück. In meinem Abteil saß ein Mädchen, vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahre alt, mit ihren Eltern. Wir kamen ins Gespräch. Sie waren auf dem Weg in die Charité. Das Mädchen hatte einen Tumor im Kopf, der entfernt werden muss. Wenn man für diesen Eingriff bis nach Berlin fahren muss, ist es eine ernste Sache. Sie würde nur ihr Krankenzimmer sehen, keinen Ku’damm, kein Brandenburger Tor, kein Restaurant, keinen Club, keine Geschäfte. Sie fuhr nach Berlin, um dort um ihr Leben zu kämpfen. Ich kam mir wie ein Idiot vor. Meine Reise führte mich in ein unbeschwertes Vergnügen, während man ihr in den nächsten Tagen die Schädeldecke öffnen würden. Was sagt man in diesem Augenblick? Ich drücke dir die Daumen? Was sind die richtigen Worte?

Ich denke an eine weitere Fahrt zurück. Diesmal sitze ich in einem Regionalexpress an einem Tisch, mir gegenüber sitzt ein Kopfhörer mit angeschlossenem Jugendlichen, schräg gegenüber eine Mutter, neben mir ein etwa achtjähriges Kind, die ihre kleine Schwester auf dem Schoß hat. Die Kleine pikst mir vorsichtig in den Arm, um zu sehen, was passiert.

Ich drehe mich zu ihr um und lächle. „Na, du bist wohl ein Quatschmacher, oder?“

Sie kichert.

„Du bist das kleine Quatschmacherkind und deine Schwester ist das große Quatschmacherkind.“

Sie grinst und sagt leise: „Ja.“

„Und wer bin ich?“

„Du bist der Quatschmacherriese.“

„Da hast du recht. Und weißt du, warum ich ein Riese bin?“

„Warum?“

„Weil ich als Kind in einen großen Topf mit Zaubertrank gefallen bin. Ich wachse immer weiter. Jetzt bin ich auf der Suche nach einem Zaubertrank, der mich wieder kleiner macht.“

„Warum?“

„Weil es viel schöner ist, klein zu sein. Aber ich muss einen Zauberer finden, der den Trank hat. Weißt du, wie ein Zauberer aussieht?“

„Er hat einen spitzen Zaubererhut, einen Zauberstab und einen Umhang.“

„So war es früher. Aber heute erkennt man einen Zauberer nicht gleich. Jeder hier im Zug könnte ein Zauberer sein.“

Sie schaut sich im Zug um. Die Mutter lächelt mich dankbar an. Ich habe die Fahrt, die für Kinder immer langweilig ist, ein wenig verkürzt.

Das habe ich mir natürlich nur ausgedacht. In Wirklichkeit habe ich der Mutter gleich nach dem Pikser mit einer Strafanzeige und ruinösen Prozesskosten gedroht. Spaß. Tatsächlich habe ich das Kind nur angelächelt und geschwiegen.     

 

3 Kommentare:

  1. Eine richtig schöne Adventsgeschichte. [ Ernst gemeint.]

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    1. "Tatsächlich habe ich das Kind nur angelächelt und geschwiegen."

      Eine anrührende Geschichte, die zum Nachdenken darüber anregt, warum wir Menschen so oft nicht sagen, was wir denken.

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