Die Sonne ist längst untergegangen und ich sitze allein in
einem Erste-Klasse-Abteil im ICE nach Berlin. Die ganzen emsigen
Geschäftsleute, die ansonsten die Fernzüge bevölkern, sind sicher schon längst
zuhause. Vor dem Fenster nichts als Finsternis, eine unbekannte Welt, ein
feindlicher Planet, von dem ich durch die Geschwindigkeit des Zugs getrennt
bin.
Ich denke an eine andere Fahrt zurück. In meinem Abteil saß
ein Mädchen, vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahre alt, mit ihren Eltern. Wir
kamen ins Gespräch. Sie waren auf dem Weg in die Charité. Das Mädchen hatte
einen Tumor im Kopf, der entfernt werden muss. Wenn man für diesen Eingriff bis
nach Berlin fahren muss, ist es eine ernste Sache. Sie würde nur ihr
Krankenzimmer sehen, keinen Ku’damm, kein Brandenburger Tor, kein Restaurant,
keinen Club, keine Geschäfte. Sie fuhr nach Berlin, um dort um ihr Leben zu
kämpfen. Ich kam mir wie ein Idiot vor. Meine Reise führte mich in ein
unbeschwertes Vergnügen, während man ihr in den nächsten Tagen die Schädeldecke
öffnen würden. Was sagt man in diesem Augenblick? Ich drücke dir die Daumen?
Was sind die richtigen Worte?
Ich denke an eine weitere Fahrt zurück. Diesmal sitze ich
in einem Regionalexpress an einem Tisch, mir gegenüber sitzt ein Kopfhörer mit
angeschlossenem Jugendlichen, schräg gegenüber eine Mutter, neben mir ein etwa
achtjähriges Kind, die ihre kleine Schwester auf dem Schoß hat. Die Kleine
pikst mir vorsichtig in den Arm, um zu sehen, was passiert.
Ich drehe mich zu ihr um und lächle. „Na, du bist wohl ein
Quatschmacher, oder?“
Sie kichert.
„Du bist das kleine Quatschmacherkind und deine Schwester
ist das große Quatschmacherkind.“
Sie grinst und sagt leise: „Ja.“
„Und wer bin ich?“
„Du bist der Quatschmacherriese.“
„Da hast du recht. Und weißt du, warum ich ein Riese bin?“
„Warum?“
„Weil ich als Kind in einen großen Topf mit Zaubertrank
gefallen bin. Ich wachse immer weiter. Jetzt bin ich auf der Suche nach einem
Zaubertrank, der mich wieder kleiner macht.“
„Warum?“
„Weil es viel schöner ist, klein zu sein. Aber ich muss
einen Zauberer finden, der den Trank hat. Weißt du, wie ein Zauberer aussieht?“
„Er hat einen spitzen Zaubererhut, einen Zauberstab und
einen Umhang.“
„So war es früher. Aber heute erkennt man einen Zauberer
nicht gleich. Jeder hier im Zug könnte ein Zauberer sein.“
Sie schaut sich im Zug um. Die Mutter lächelt mich dankbar
an. Ich habe die Fahrt, die für Kinder immer langweilig ist, ein wenig
verkürzt.
Das habe ich mir natürlich nur ausgedacht. In Wirklichkeit habe
ich der Mutter gleich nach dem Pikser mit einer Strafanzeige und ruinösen
Prozesskosten gedroht. Spaß. Tatsächlich habe ich das Kind nur angelächelt und
geschwiegen.
Eine richtig schöne Adventsgeschichte. [ Ernst gemeint.]
AntwortenLöschenVielen Dank.
Löschen"Tatsächlich habe ich das Kind nur angelächelt und geschwiegen."
LöschenEine anrührende Geschichte, die zum Nachdenken darüber anregt, warum wir Menschen so oft nicht sagen, was wir denken.