Freitag, 18. Juni 2021

Warum ich politisch heimatlos geworden bin

 

Früher war es einfach. Du hast dich einfach selbst definiert. Du warst ein Linker. Du warst ein Sozialdemokrat oder ein Konservativer. Du warst ein Rechter. Jeder hatte die freie Wahl. Der größte Revoluzzer in meiner Klasse, der später sogar von Interpol für die Polizistenmorde an der Startbahn West gesucht wurde, war der Sohn eines Multimillionärs, der heute abwechselnd in der Schweiz und in der Bretagne lebt. Der Revoluzzer selbst ist Villenbesitzer in Wiesbaden und erfolgreicher Unternehmer.

Früher war es einfach. Alle, Männer und Frauen, Junge und Alte, Einheimische und Zugereiste, Heterosexuelle und Homosexuelle, Zwerge und Riesen hatten das gleiche Ziel, wenn sie Linke waren: die Abschaffung des Kapitalismus, Gleichheit, Freiheit, Solidarität, Frieden, Umweltschutz. Man war vereint im Kampf gegen Ausbeutung, Imperialismus, Aufrüstung und die Bonzen. Jedem war klar, dass man diese großen Ziele nur gemeinsam erreichen kann.

Heute ist es kompliziert. Wir definieren uns nicht mehr selbst, wir werden durch äußere Merkmale kategorisiert. Im Grunde genommen ist es ein zutiefst bürgerlicher Vorgang, denn diese Merkmale sind unveränderlich. Rein theoretisch könnte ich mich operieren lassen und eine Frau werden. Aber ich werde mit Sicherheit kein Afrikaner oder Chinese. Während in der herrschenden Klasse uneingeschränkte Einigkeit zwischen Bauunternehmern und Zahnärzten, Notaren und Bankern herrscht, hat sich die Gegenfraktion komplett selbst zerlegt.

Wo gehöre ich hin?

Kann ich mich für die Armen, die Hartz-IV-Empfänger und Mindestlohnbezieher, einsetzen, wenn ich als Freiberufler ein unbeschwertes Leben führe?

Kann ich mich für den Feminismus engagieren, obwohl ich ein Mann bin?

Kann ich mich als privilegierter Einheimischer für Flüchtlinge und Migranten einsetzen?

Kann ich als Weißer gegen Rassismus kämpfen?

Schließlich sind wir alten weißen Männer die Ursache von Rassismus und Sexismus, also können wir nicht Teil der Lösung sein. Ich kann mich auch nicht in die Lage einer Frau oder eines Schwarzen hineinversetzen. Wegen Menschen mit meinen äußerlichen Merkmalen haben Migranten und Frauen keine Chance.

Wie kann ich mich mit Mietern solidarisieren, wenn ich ein Landhaus und eine Stadtwohnung besitze?

Wie soll ich mich der Klimaschutzbewegung anschließen, da mich, einen alten Mann ohne Kinder, die Katastrophe, auf die wir uns in Zeitlupe zubewegen, nicht mehr betreffen wird?

Welche Partei sollte ein Mensch wie ich 2021 wählen?

Das ist nichts mehr. Es gibt keine politische Heimat für mich. Andy - Allein zu Haus.  

Past Your Bedtime - YouTube

 

24 Kommentare:

  1. Traurig, politische Einsamkeit... 🤔😉🤣
    Nur der verwandte Schmerz entlockt uns die Träne, und jeder weint eigentlich für sich selbst.

    Autor: Heinrich Heine (1797 - 1856)

    *tätschel*

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    1. Es bleibt mir ja noch die Volksgemeinschaft der Fußballfans ;o)

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    2. Yeah.... da bin ich auch dabei ⚽ *tröööt*

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    3. Morgen um 18 Uhr: Stunde der Wahrheit.

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  2. "Welche Partei sollte ein Mensch wie ich 2021 wählen?"

    CDU, damit die Unbequemlichkeiten möglichst lange rausgezögert werden. :D

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  3. liebe/r andy,
    ich kann dich sooo gut verstehen, echt. aber im internet muss niemand alleine bleiben. nur ein wenig reichstum, leicht hinterderhand gehalten, und schon kannst du freunde finden, klein, dick, mit brillengläsern wie flaschenböden und saurem achselschweiß, aber alles authentisch!

    geh' zu den den "rebellen". da sind alle beinander und müssen sich nicht mehr einsam fühlen.

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    1. Lapuente faselt von Selbstmord ... vielen Dank auch :o)

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    2. Zehn Texte von Roberto gelesen und man steht auf den Schienen des ICE.

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  4. OT

    Hörspiel

    Wagenplatz Rattenwürger in Berlin

    https://rattenwuerger.bandcamp.com/releases

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  5. ich kenne noch das jahrzehnte dauernde lavieren, wähle ich spd, oder doch die grünen, oder ...
    irgendwann habe ich ungültig gewählt, damit ich mitzähle, auch bescheuert. nun bin ich einfach ich und entscheide einfach wie es kommt, mit meinen utopien und meiner naiven hoffnung auf eine bessere welt ist das so. ich kann nicht in die zukunft schauen, und die wissenschaft sagt mir, wir zerlegen unseren planeten. ich will nie auf einen anderen, also wählen, mund aufmachen, denken...

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    1. Die Grünen habe ich in den 80ern und 90ern gewählt, dann kamen die Linken. Bin mit allem durch. Alle drei Kanzlerkandidaten sind für mich inakzeptabel.

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  6. Klingt nach FDP.

    (Schreibt gerade der, der sich seit Neujahr davor drückt, da einzutreten - naja, vielleicht nach "der Wahl".)

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    1. Von den Piraten zur FDP ... da musst du aber deinen Lebenslauf noch etwas frisieren ;o)

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    2. Na gut, dann werde ich zuerst Kanzlerkandidatin der Grünen. ;-)
      Ich bin halt ein kernliberaler Bürgerrechtsfreund, der gegen Geld auch nichts hat. Kamma nix machen.

      (Bei der Bundestagswahl werde ich trotzdem würfeln müssen. Ob die DKP wohl hier antritt? Die mag ich. Trotz ihrer Politik.)

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    3. DKP? Ich dachte, die hätten in den letzten zehn Jahren alle die Piraten unterwandert? ;o)))

      Da hättest du ja gleich bei deinem alten Verein bleiben können.

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    4. Laut Wahl-o-Mat soll ich entweder FDP, AfD oder DKP wählen. Keine Ahnung, zu was mich das jetzt wieder macht.

      Wie man's auch nimmt: ich pflege ja zwischen Mitgliedschaft und Wahl zu unterscheiden. Den alten Verein habe ich seit Jahren nicht mehr gewählt und eine Mitgliedschaft in irgendwas reizt mich noch etwas zu wenig gerade. Das löst natürlich das Problem des Hausherrn nicht, der meinen völlig ernst gemeinten Vorschlag zu bescherzen beliebte. Pah!

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    5. @tux
      Vielleicht kandidiert Zeise, denn "einer muss die Fahne hochhalten"

      https://www.brandeins.de/magazine/brand-eins-wirtschaftsmagazin/2018/reste/lucas-zeise-der-kapitalversteher

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    6. @ tux

      Nach einer ausgiebigen Siesta möchte ich dir auch ernsthaft antworten: Mein Großvater war und mein Vater ist FDP-Wähler. Wenn ich jetzt auch noch FDP wähle? So kann es doch mit dieser Familie nicht weitergehen.

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    7. Ah, ich verstehe: Der Herr Eberling entdeckt den rebellischen Punk in sich. Andererseits: Hatte nicht die FDP Friedrichshain-Kreuzberg erst vor wenigen Monaten plakatiert, die FDP "sei Punk"?

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    8. Dann kann ich die FDP ja erst recht nicht wählen. Wer 2021 Punk ist, hat doch den Schuss nicht gehört, oder? ;o)))

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  7. Mach doch Reichsbürger.
    Dann kannst Du Deine eigene Bude zum eigenen Staatsgebiet erklären.
    Ergo biste auch selber Präsi, König oder Staatsratvorsitzender.
    Und alles was die Anderen sagen ist gelogen, falsch, irgendwas, nur nicht relevant.
    Eigene Währung ! Auch cool. Und dann mit Währungsschwankungen spekulieren. ( Lach mich tot. )
    Also, auf geht´s.

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