Montag, 31. Mai 2021

Ein Tag im Jahr 2194


Als ich aufwachte, standen mir die Schweißperlen auf der Stirn. Ich ging ins Bad und zog mein verschwitztes Shirt aus. Die Klimaanlage funktionierte nicht. Stromausfall. Das dritte Mal in dieser Woche. Niemand investierte Geld in diesen alten Wohnkomplex. Dabei zahlte ich zwanzigtausend Dollar Miete im Monat, mehr als die Hälfte meines Einkommens.

Ich zog mir ein frisches Shirt an. Es hatte ein paar Löcher, aber ich hatte mein Kontingent an Bekleidung für dieses Quartal schon zugeteilt bekommen. Baumwolle und Kunstfasern waren gerade knapp, aber in Sektor 27 sollte ein neuer Komplex entstehen, in dem genügend Baumwolle gezüchtet werden würde.

Mit dem Fahrstuhl fuhr ich von meiner Wohnung im 58. Stock in den Keller. Auf dem Bahnsteig standen ein paar andere Bewohner mit müden Gesichtern. Ohne Klimaanlage war die Hitze kaum auszuhalten. Wie musste es erst außerhalb der Kuppeln sein? In der Wüste oder in den Bergen? Die Magnetschwebebahn kam, ohne ein einziges Geräusch zu verursachen. Ich hatte Glück und bekam einen Sitzplatz.

Im Arbeitskomplex 107 stieg ich aus. Ich bin Macher und ich arbeite für einen Künstler, der Filme für die Bewohner unserer Kuppelstadt programmiert. Ich mache für ihn die Recherche. Wenn ein Film beispielsweise in der Vergangenheit spielt, sehe ich im Archiv nach, wie die Menschen damals gelebt haben, damit die Handlung und der Bildhintergrund authentisch wirken. Im Jahr 2000 hat man sich das Handy noch ans Ohr gehalten, 2020 vor den Mund, als wolle man hineinbeißen, 2040 sprach man ohne Gerät und 2060 sprach man gar nicht mehr.

Ich ging immer gerne ins Büro. Hier funktionierte wenigstens die Klimaanlage und das Leitungswasser war trinkbar. Wir durften so viel trinken, wie wir wollten, aber wir durften kein Wasser mit nach Hause nehmen. Im Fahrstuhl von der Haltestelle im Keller in mein Büro dachte ich daran, dass ich nur noch einen Monat arbeiten musste, bevor mein Baccanal begann. Einmal im Jahr durften wir zwei Wochen lang leben wie ein Seher. Ein Luxusapartment, der Besuch echter Gärten, köstliche Speisen, Swimming-Pool, Massagen. Wir lebten nur für diese zwei Wochen im Jahr.

Unsere Gesellschaft besteht aus wenigen, klar voneinander abgegrenzten Gruppen. Ganz oben gibt es die Seher. Sie sehen zukünftige Profite und Geschäftsfelder, sie leiten die Gesellschaft. Dann gibt es die Heiler, sie sind für unsere Gesundheit zuständig. Die Wächter sorgen für Ordnung. Die Künstler unterhalten uns. Dann kommt die Masse der Ernährer und Macher. Darunter gibt es nur noch die Verbraucher: Menschen, die aufgrund ihres Alters oder einer Behinderung nicht arbeiten können. Die Weltbevölkerung liegt derzeit stabil bei fünf Milliarden Menschen. Jede Frau hat das Recht auf zwei Kinder. Diese Rechte sind verkäuflich und können an andere Frauen abgetreten werden.

Da die Welt außerhalb der Kuppeln nicht mehr zu retten war, werden die Nahrungsmittel in riesigen Komplexen mit achtzig Stockwerken hergestellt. Getreide, Obst und Gemüse werden ohne Erde angebaut. Fleisch, Fisch und Milchprodukte gibt es nur für die Seher. Die Versorgung der Pflanzen mit Wasser und Nährstoffen sowie die Herstellung von Proteinzellen ist vollständig automatisiert. Auch wenn wir Menschen von der Erde verschwunden ist, leben sie weiter. Wir geben die Schöpfung so, wie Gott sie erschaffen hat, an die Zukunft weiter.

Sören-Rambo Nelkenthal, der Künstler, für den ich arbeitete, erwartete mich schon. Ich sollte Frisuren und Bekleidung aus den 1980er Jahren recherchieren. Dazu ein paar Modewörter, die aber heute noch verständlich waren. Krass ungeil, Alter!

P.S.: Heute Abend um 23 Uhr kommt auf Arte „Zardoz“, einer der besten dystopischen Filme aller Zeiten. Es geht nicht um Raumschiffe oder Außerirdische, sondern um eine brutale Zwei-Klassengesellschaft. Die politisch korrekt (Ökologie, Gleichberechtigung, Frieden) lebende Elite wohnt in Luxus-Enklaven von der Masse getrennt, für die es nur Armut, Hunger und Gewalt gibt.

Tosca - Stuttgart feat. Lucas Santtana (Marlow & Trüby Refix) - YouTube

9 Kommentare:

  1. ... den FILM gibt es aber schon:

    2194 Film Für Sie 20/1968 DDR
    "Cheyenne" Richard Widmark Carroll Baker

    *Kerl, näh*

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  2. puh, da bin ich froh, das nicht erleben zu müssen, hoffentlich. spannender ansatz für eine atemraubende vision, einen schritt weiter als 1984.

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    1. 2194 erwachst du aus dem Kryo-Schlaf. Rentenalter ist auf 100 raufgesetzt ;o)

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  3. DasKleineTeilchen31. Mai 2021 um 10:32

    neat. arthur frayn hätte seine helle freude gehabt...

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  4. Im Jahre 2030 wurden alle Banken zerschlagen und aufgelöst. Fondsgesellschaften, Hedgefonds und Börsenzockereien wurden verboten.
    Jeder Mensch bekam ein Konto bei seiner Zentralbank. Die Menschen im Jahre 2194
    leben glücklich und zufrieden, denn mit der Banken- und Finanzbereinigung brachen auch die Monopole fossiler Energiekonzerne. Kriege um Öl waren Geschichte.

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  5. Harry Harrison und Timothy Tuckle grüßen zurück :-)
    Und das Shadowrun-Universum ;-)

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