Die
Steingasse gehört zum ältesten Teil der Stadt. Die schmalen Fachwerkhäuser sind
aus dem 17. Jahrhundert und haben fast durchgehend drei Stockwerke. Das Gewirr
der kleinen Gassen ist mit Kopfstein gepflastert und für den Autoverkehr
gesperrt. Ich wollte nur zwei oder drei Tage bleiben. Ich hatte mich im
Gasthaus zum schwarzen Bären eingemietet, das für sein helles Bier und die
hervorragende Ochsenzunge berühmt war.
Als
ich durch die Gassen schlenderte, satt und zufrieden nach einem opulenten
Mittagessen, das aus Rehterrine, eben jener Ochsenzunge und Kaiserschmarrn
nebst drei Humpen Bier bestanden hatte, sah ich, dass eines der Häuser in der
Steingasse zu vermieten war. Ich wählte die angegebene Telefonnummer und eine
Stunde später stand ich mit dem Vermieter im Haus Steingasse 7. Da es Sommer
war, würde ich die Kohleöfen nicht heizen müssen. Küche und Bad im Erdgeschoss
waren schlicht, aber sauber. Dazu ein Raum zur Gasse hin, der mehr einer
Rumpelkammer glich.
Wir
stiegen die Treppe in den ersten Stock hinauf. Hier gab es ein helles
Wohnzimmer, ausgestattet mit schweren Ledersesseln, einer Schrankwand voller
abgegriffener Schmöker aus dem zwanzigsten Jahrhundert und einem Schreibtisch
am Fenster. Immerhin gab es WLAN. Es gefiel mir sofort. Hier würde ich in den
nächsten zwei Monaten an meinem neuen Buch arbeiten. Auf demselben Stockwerk
gab es noch ein großes Schlafzimmer mit Doppelbett. Der Raum war recht düster,
da zwischen dem Fenster und der Rückwand des angrenzenden Hauses kaum zwei
Meter Abstand waren.
Die
Treppe zum Dachgeschoss war schmal und steil, fast wie eine Leiter. Hier
standen nur ein breites Sofa und ein flacher Holztisch. Den Blick über die
Stadt hätten andere vielleicht als „malerisch“ bezeichnet. Ich schrieb
Sachbücher. Ich beschloss, diesen Raum für gemütliche Nachmittage mit Lektüre
und gelegentlichen Nickerchen zu nutzen. Ich hatte vor, über die chinesische Tang-Dynastie
zu schreiben, und hatte gerade erst begonnen, mich in das Thema einzulesen. Über
die Miete waren der Vermieter und ich schnell einig. Am übernächsten Tag konnte
ich einziehen.
Als
ich dem Wirt vom schwarzen Bären erklärte, dass ich bald das Quartier wechseln,
seinen Fässern und seiner Küche aber die Treue halten wollte, erzählte er mir
im Tonfall eines Verschwörers, das Nachbarhaus in der Steingasse, die Nummer 6,
stünde seit Jahrzehnten leer. Wilde Gerüchte rankten sich um das Gebäude. Ein
Mann habe dort seine gesamte Familie erschlagen und sich dann im Dachgeschoss
erhängt. Nach Einbruch der Dunkelheit würde es im Haus spuken und gelegentlich
hätte schon so mancher Zecher, der in tiefer Nacht auf dem Heimweg war, ein
Licht im obersten Fenster brennen sehen. Die Fassade des Hauses war tatsächlich
mit einigen wunderlichen Figuren ausgestattet: gehörnte Kreaturen, verzerrte
Fratzen und Zentauren.
Während
der ersten Tage in der Steingasse befasste ich mich mit der Strukturierung des
geplanten Buchs. Ich bestellte mir online einige Fachbücher, auf die ich
allerdings warten musste. Also beschloss ich, mir die Rumpelkammer im
Erdgeschoss etwas genauer anzusehen. Tische und Stühle waren
übereinandergestapelt, in einem Schrank fand ich zerschlissene Kleider aus
grauer Vorzeit. Vielleicht sollte ich hier etwas aufräumen. Am meisten störte
mich der ausgetretene, fadenscheinige Teppich, der völlig verstaubt war und in
der Mitte des Zimmers lag. Ich begann, ihn zusammenzurollen, und entdeckte eine
Falltür im Boden.
Das
Haus hatte also einen Keller. Vielleicht würde ich ein paar Flaschen Wein oder
Obstler dort unten finden? Die Falltür ließ sich nur schwer und mit einem lauten
Knarren öffnen. Ich stieg die Holztreppe hinunter und fand einen Lichtschalter.
Der Keller war niedrig und voller Spinnweben. Leere Fässer, ein Stapel
Brennholz, Kohlen und ein Regal mit Einmachgläsern. Ich war enttäuscht. Etwas
geheimnisvoller hätte meine Entdeckung schon sein können. Ich wollte schon
wieder gehen, da sah ich am anderen Ende des Kellers eine Tür.
Im
Schloss steckte ein Schlüssel. Ich überlegte nicht lange und drehte ihn. Auf
der anderen Seite war ein weiterer Kellerraum. Auch er voller wertlosem
Gerümpel. Licht kam nur von einem kleinen Fenster. Ich ging darauf zu und war
überrascht, eine weitere Tür zu finden. Sie ließ sich öffnen und ich stand in
einem Garten. Laut Stadtplan gab es in der gesamten Altstadt keine Gärten. Die
hohen Mauern waren ganz mit Efeu überwuchert, in der Mitte stand eine alte
Linde und das Gras war meterhoch. Ich schaute mich um.
Das
war nicht die Rückwand meines Hauses. Dieses Haus hatte auf jedem Stockwerk
zwei Fenster zum Garten. Das musste das Haus Nummer 6 sein, das seit langer
Zeit unbewohnt war. Drei Stufen führten zu einer Tür. Ich drückte die Klinke. Auch
sie war unverschlossen. Ich betrat das Haus. Das Erdgeschoss war völlig leer.
Ich stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf. Hier fand ich ein paar
altertümliche Möbel. Stille. Ich schaute aus dem Fenster auf die Straße und
bemerkte, dass die Sonne bereits untergegangen war.
Dann
stieg ich in den zweiten Stock. Hinter der ersten Tür, die ich öffnete, war das
Schlafzimmer. Ich öffnete die nächste Tür. Die Bibliothek. Am Fenster stand ein
Sessel mit einer hohen Lehne. Ich zögerte einen Augenblick. Es war schon recht dunkel
und ich musste den Weg zurück in mein Haus finden. Schließlich ging ich doch
auf den Sessel zu. Und dann sah ich ihn.
Fortsetzung folgt
... Meister EDER ;)
AntwortenLöschenWo ist jetzt Pumuckl ... ?
Sehr schön und auch schön leicht gruselig. :-)
AntwortenLöschen"Hier spricht Dr. Mabuse, ich nehme auch Kassenpatienten, Huahahaha!"
AntwortenLöschen... den Gerichtsvollzieher, der schon Jahre hinter mir her war und auf der Stelle eine Taschenpfändung vollzog. In meinem ehemals prallgefüllten Geldsäckel waren noch ...
AntwortenLöschenFortsetzung folgt
Mit solchen Sachen hat auch H. G. Wells sich anfangs über Wasser gehalten. Passt auf, Leute, derart Sanftes kommt wieder in Mode, je mehr da draußen alles freidreht. Gruß von Götz
AntwortenLöschenEdgar Wallace meets Agatha Christie in Schweppenhausen.
AntwortenLöschenSex mit Miss Marple würde die Geschichte rund machen.
Du bist der Lösung dicht auf der Spur. Respekt!
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