Freitag, 26. September 2014

1993, Teil 1

Auszüge aus dem Notizbuch:
25. Januar, Schweppenhausen. Was irgendwann bleibt, ist das Bedürfnis, Tinte zu verspritzen.
31. Januar. Ich bin auf der Suche nach dem sinnlosesten Gegenstand. Über ihn möchte ich eine Geschichte schreiben.
1. Februar. Täglich kommen nun zu Tode erschöpfte Reiter zurück, bleiche Boten taumeln in den Palast und melden, sie hätten nichts gefunden. Monatelang durchquerten sie seelenlose Wüsten, sie entfernten sich mutig von den alten Außenposten des Reichs und ritten in die unbekannte Leere. Aber es gibt dort nichts. Alle kehrten mit leeren Händen zurück.
2. Februar. Die Unaussprechlichen befahlen uns, eine große Grube mit Helden zu füllen. Wir riefen alle zusammen, die wir kannten, und sie stiegen hinab, doch es wurde späte Nacht und noch immer hatten wir dieses Loch nicht auch nur annähernd gestopft.
3. Februar. Slapstick-Einschlafen: Nach der üblichen, die Vorbereitungen für die Nacht begleitenden Erleichterung betätigte ich die Spülung und ging ins Bett. Ein Geräusch, das verdächtig an einen Wasserhahn oder eine Fontäne erinnerte, stöberte mich wenig später in meinem Halbschlaf auf. Nach einigen Augenblicken, die einem verärgerten inneren Monolog gewidmet waren, stand ich auf und ging ins Badezimmer. Aus dem undichten Rohr zum Wasserkasten der Toilette spritzte eine fächerförmige Wasserkaskade und hatte schon fast das gesamte Bad unter Wasser gesetzt, auch von der Decke tropfte es. Wie in einem alten Klamauk-Stummfilm kämpfte ich mich zum Hauptwasserhahn durch und drehte das Wasser ab. Klatschnass stapfte ich dann zum Bett zurück. Ein wundervoller Augenblick.
7. Februar. Je nach Stimmung denke ich, meine Pechsträhne dauert nur ein paar Wochen, ein paar Monate, ein paar Jahre oder immer. Aber es würde mich ja doch mal interessieren, in wie vielen Prozent der Fälle der Käufer eines Fernsehgeräts erleben muss, wie das angebliche Wunder südkoreanischer Ingenieurkunst bereits nach vier Tagen seinen nutzlosen Geist aufgibt.
8. Februar. Künstler sind im Grunde belanglose Figuren. Was haben sie denn auch gelernt außer ihrem Gewerbe? Das Licht des Gewöhnlichen fällt auf die schiefen Spiegel ihrer Köpfe und wirft ein neues Bild an die Wand, das ist alles. Nimmt man diesen schrägen Blick auf die Welt fort, bleibt oft ein erschreckend gewöhnlicher Mensch.
9. Februar. Zukünftige Archäologen werden unsere Teilchenbeschleuniger für religiöse Einrichtungen halten – und hätten damit gar nicht mal so Unrecht. Diese rührende und verzweifelte Suche nach letzter Erkenntnis, letzter Gewissheit.
11. Februar. Im Augenblick wird viel vom Verhältnis zur eigenen Nation, Patriotismus etc. geschrieben. Meines ist wie das Verhältnis zu einem fernen, lästigen Verwandten, es schwankt zwischen Gleichgültigkeit und Verachtung.
16. Februar. Ein Gott: „Gorgon, hast du die Teufel aus dem Paradies vertrieben?“ Gorgon: „Nein, sie zeigten mir einen rechtsgültigen Vertrag.“
17. Februar. Essen: hungrig => satt. Trinken: durstig => besoffen.
21. Februar. Sein Herz besteht aus drei Kammern. Die äußerste von ihnen ist kugelförmig und aus gusseisernen Platten zusammen genietet. Ihre Außenhaut weist zahllose Anschlüsse auf, dicke Schläuche führen hinaus in die Welt. Die zweite Kammer ist aus Silber und schwebt im Mittelpunkt der Außenkammer, wenige feine Äderchen führen von ihr zur eisernen Haut. In ihrem Inneren wiederum ruht schwerelos und unverbunden die letzte Kammer, mandelförmig und golden. Hier ist er jedoch nur gelegentlich.
26. Februar. Es gibt eine Erklärung. Aber du verstehst sie nicht.
28. Februar. Ich war beeindruckt, als ich Flake McMurdoch zum ersten Mal erblickte. Eine ruhige, weite Persönlichkeit, eingebettet in einem ebensolchen Körper, so schritt er majestätisch auf mich zu. Ein rotkariertes Trapperhemd, großzügige Hosen und ein ungewöhnlich hässlicher Bowler bildeten die visuelle Reizumgebung eines aufgedunsenen Rindergesichts. Der Zeitkoordinator von Mittelengland betrat den Raum. Im oblag die Kontrolle der Geschwindigkeit aller relevanten Bewegungsprozesse seines Hoheitsgebiets, strenge Normen in Arbeitswelt und Verkehr zügelten die maßlose Gier nach Beschleunigung. Schwerfällig begann McMurdoch, sich auf einen Stuhl zusetzen.
Klage einer Mutter: „Joinele, oh Joinele, hab ich dich nicht immer gewarnt, habe ich dir nicht immer gut zugeredet? Kauf dir anständige Schuhe, habe ich ihm gesagt, schaff dir eine warme Jacke an! Aber nein, er hat alles, was wir ihm gegeben haben, immer zum Schankwirt getragen.“
Wer den Sinn sucht, entfernt sich vom Sinn.
1. März. Das Elend der Stationen. Wieder verbringe ich endlose einsame Monate im Observatorium. Schränke und Truhen fülle ich mit Berichten, mit Beschreibungen von Beobachtungen. Ich kann mir kaum noch die Welt außerhalb dieser Mauern vorstellen, die Erinnerungen an die Wirklichkeit verlieren ihre Farben, sie werden durchsichtiger und undeutlicher. Die völlige Konzentration auf eine Aufgabe, das Ablesen der Geräte, das routinemäßige Notieren der Ergebnisse wird zur Last und nur die Furcht vor Strafe erzwingt mein Schweigen. Ein nutzloseres Leben als meines wird sich schwerlich finden lassen. Genug der Bitterkeit, zurück an den Schreibtisch.
9. März. Solange es niemand verrät, geht das alte Spiel weiter. Unser Schweigen wird die Täuschung aufrechterhalten.
10. März. Fußballabend: „Gundelach taucht ins bedrohte Eck“, "Aufgepasst, Gundelach“, „Die Chance gut vereitelt: Hansi Gundelach“, „Da kann man nur noch auf den Kollegen Zufall hoffen“.
21. April. Hunger/Appetit, Durst/Brand.
3. Mai. Winzige Dinosauriereier glühen in meiner Pfeife und verbreiten einen eigenartigen Geruch. Draußen liegt der unerträglich schöne und ruhige Garten in der milden Nachmittagssonne. Ich erfreue mich auf das Unschuldigste meiner vollkommenen Zwecklosigkeit. Das Leben könnte in dieser Sekunde eingefroren werden und alles würde unvollendet bleiben. Das Endgültige ist immer so traurig.
4. Mai. Eine halbe Flasche Wein ist doch eher angetrunken als angebrochen, oder?
19. Mai, Berlin. Physisch bin ich seit drei Tagen wieder in Berlin. Die Prüfungen liegen hinter mir, ich bin – wer hätte das gedacht – ganz offiziell ein Politikwissenschaftler und dürfte ein „M.A.“ hinter dem Namen tragen, wenn es mir nicht zu albern wäre. Eigentlich bin ich aber erst gestern Abend angekommen, als ich mit dem Wagen durchs frühlingswarme Kreuzberg fuhr. Habe mir eine neue Pfeife gekauft und trotz der frühen Stunde trinke ich bereits das erste Bier. Heute Abend werde ich mit D. eine Flasche Champagner trinken.
Ich sitze vor einer Karte, die fast den gesamten Tisch bedeckt. Sie zeigt Berlin und Umgebung, von Neuruppin bis Jüterbog, von Genthin bis Fürstenwalde. Vor meinen Augen verwandelt sich die Gegend, langsam verändert sich alles: Das Havelland wird ein riesiger Rummelplatz für Klein und Groß (eine der Attraktionen: die Bundesregierung in Kotzen), Eberswalde und die Schorfheide werden autofreie Abenteuerspielplätze und überhaupt werden die Autobahnen und Schnellstraßen überbaut und bepflanzt (also unter die Erde verlegt), damit man sich ungestört durch die Landschaft bewegen kann. Mein Schloss entsteht in Babelsberg und heißt Seven Items, überall schießen kleine Holzhäuschen an den Seeufern empor.
29. Mai. Er arbeitete seit Jahren nur noch an der Vervollkommnung seiner Hässlichkeit. Nun, im Stadium kontrollierter Selbstvergiftung, erkannte er, dass sich aus diesen verkommenen Gesichtszügen nichts Gutes mehr entwickeln konnte.
Stell dir eine Hellebarde vor. Wenn du sie klar vor deinem geistigen Auge siehst, stelle dir ihre blank gewienerte Klinge vor. Sie glänzt in der Sonne. Du drehst den Schaft bis zu dem Punkt, an dem sich das Licht gleißend bricht. Wenn du dir dieses Aufblitzen vorstellen kannst, hast du das Stadium des Berichts erreicht.
31. Mai. Du stirbst nicht, du wirst eine Supernova.
2. Juni. Die Bühne ist leer. Bereits um zehn Uhr morgens fällt der Vorhang gnädig herab. Ein LSD-getränktes Peace-Zeichen schwimmt in einem Glas voll billigem Wein, die Pfeife ist gestopft. Was hätte es noch für einen Sinn, geistreiche Umschreibungen für dieses Nichts zu finden? Ein süßer Duft, ein bitterer Geschmack und alles ist vorbei – nur die zarte Hand einer Melodie in deinem Nacken …
5. Juni. Der unruhige und absichtslose Strom der Mitteilungen, der meiner Rechten entfließt. Soll ich mir die schreibende Hand abschlagen? Aber welchen Blitzableiter wird sich mein unseliger Geist dann suchen?
8. Juni. Ich glaube, ich bin inzwischen soweit, dass ich täglich fünf Stunden meines Lebens an die Werbung verkaufen kann. Alle können kommen, no limits. Den Rest der Zeit möchte ich dumpf herumsitzen und mit müden Augen auf den Tod warten.
11. Juni. Mohngedicht
Der Mohn, der Mohn/ Der wächst auch um Ecken/ Dem Auge zum Hohn/ Dem Geiste zum Schrecken
Drum halt dich fern/ Und sei bereit/ Demnächst in Bern/ Um diese Zeit
Der Mohn, der Mohn/ Der wächst auch um Ecken/ Du ruhest schon/ Wer kann dich noch wecken
19. Juni. Einsames kleines Mädchen, deine Mutter und dein Vater kümmern sich einen Dreck um dich, wenn du in einer riesigen Pfütze aus Scheiße spielst. Keiner hört die Melodie, die du dabei summst.
20. Juni. A. erzählte von einem alten Mann, den sie in Amerika getroffen hatte, und der tatsächlich glaubte, nur Amerikaner könnten die Welt farbig sehen, Europäer würden alles in Schwarz-Weiß sehen.
21. Juni. Erster Schritt: Die Sekunde abschaffen. Dann weitersehen.
22. Juni. Du schreibst eine Botschaft, rollst sie zusammen und steckst sie in eine leere Flasche, die du mit Wachs versiegelst. Du fährst ans Meer, stellst dich an den Rand einer Klippe und wirfst sie ins Wasser. Sie zerschellt auf einem Stein.
23. Juni. Vor dem Palast der Republik wird gerade eine alberne Schloss-Attrappe aufgebaut, um für den wahnwitzigen, durch nichts zu begründenden Wiederaufbau der alten Hohenzollern-Residenz zu werben. Seit wann braucht eine Demokratie ein Schloss? Wer soll da wohnen?
29. Juni. Nachts die herrlichen S-Bahnfahrten im Berliner Regionalfernsehen. Dazu Frank Zappa. Ich könnte ewig von Station zu Station saufen und Musik hören. Was wäre das Paradies? Wenn dieser Zug niemals halten, niemals enden würde. Wir würden einfach weiterfahren, Stunde um Stunde, immer weiter durch Landschaften, an Häusern vorbei, weiter, immer weiter, bis deine Kraft erschöpft ist. Die Schienen liegen immer bis zum Horizont.
Rolling Stones – You Can’t Always Get What You Want. http://www.youtube.com/watch?v=XG5GOH2CO1k

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