Montag, 22. September 2014
1991
Auszüge aus dem Notizbuch:
7. Januar, Bad Kreuznach. Die Giftgasfabriken und Rüstungsbetriebe im Irak sind mit Hilfe deutscher Spezialisten immer noch in Betrieb, aufgrund des Devisenmangels arbeiten sie für Gold. Es ist die Zeit der Raffer, Gierschlünde und Demagogen. Über einen itzo drohenden Golfkrieg nebst Weltenbrand mache ich mir im Gegensatz zu meinen aufgeregten Zeitgenossen keine Gedanken. Selbst wenn deutsche Truppen schiffsladungsweise in ein mögliches Gefecht geschickt werden, um womöglich jämmerlich an einem deutschen Zyklon B-Nachfolgeprodukt zugrunde zugehen – wer ist es denn, der stirbt? Ein Haufen Wet-Gel-gestylter hirnloser CDU-Yuppies, die sich bei der Bundeswehr ihre feuchten Gewaltvideoträume verwirklichen wollen, und denen ein großes hässliches Loch in ihre ansonsten knitterfreie Biographie geschossen wird. Disco-Heinis, Manta-Fahrer und Karriere-Schweine – schade um keinen von ihnen. Selbst schuld, Krieg ist das Handwerk des Soldaten.
12. Januar. Sicher hat sich schon jeder vernünftige Mensch einmal gefragt, warum er nicht Herrscher der Welt ist. So auch ich.
22. Januar. Zerstreuung. Was für ein herrliches Wort! Man möchte die deutsche Sprache dafür mitten auf den Mund küssen. Ich sehe mich förmlich über das Bett verteilt liegen, gelungener Mittwochvormittag, dazu Mozarts Salzburger Sinfonien. „Rest des Nachmittags: faul und bösartig. (Wie Gott vor der Schöpfung)“, Arno Schmidt: Brand’s Haide.
27. Januar. Mainzer Allgemeine Zeitung: „Wackernheim – Der Kreppelkaffee der Arbeiterwohlfahrt, der für Sonntag vorgesehen war, ist wegen des Golfkriegs abgesagt worden.“ Wer hatte grundlos einen Krieg gegen die armen leidgeprüften Bauern dieses rheinhessischen Dörfchens entfesselt? Es geht mal wieder gegen die heidnischen Muselmanen, gegen heimtückische Sarazenen, denen wir das Heilige Land unseres neuen Glaubens entreißen müssen. Nova Bethlehem ist eine gigantische Ölfontäne, um sie herum ragen Bohrtürme wie Kathedralen in den Himmel. Wehe dir, Satan Hussein, dass du die Auserwählten versucht hast, dass du wider den Stachel gelöckt hast! Nun befreien die himmlischen Heerscharen der Christenheit, an ihrer Spitze reitet der noble Sir George „Eisenherz“ Bush, Herr über die Neue Welt, endlich Kuwait-City, Nova Jerusalem. Dem Dieb von Bagdad bleibt nur das bittere Gift der Niederlage. Es wird ein gerechter Sieg nach einem gerechten Krieg sein. Ein heiliger Sieg. Sieg Heil! Weitere Zeitungsmeldung: „Augsburg – Das Marionettentheater ‚Die Augsburger Puppenkiste‘ hat ‚Aladin und die Wunderlampe‘ von seinem Spielplan abgesetzt. In dem Stück, das in Bagdad spielt, sei mehrfach die Rede vom ‚guten und großzügigen Herrscher von Bagdad‘. Außerdem werde des öfteren Allah angerufen. Beides sei in der augenblicklichen Lage ‚nicht passend‘, hieß es von der Spielleitung des Marionettentheaters. Jetzt spielt man ‚Dornröschen‘.“
8. März. Wenn man sich das nationale Pathos betrachtet, mit dem die Amerikaner in ihren Kreuzzug um die Ölquellen Arabiens gezogen sind, finde ich die deutschen Patriotismusversuche richtig goldig. Wie feiert der Deutsche, wann freut er sich? Erstens an Silvester, mit Sekt und Knallfröschen, zweitens beim Volksfest, mit Bockwurst und Bier, drittens beim Karneval und viertens, wenn die Fußballnationalmannschaft Erfolg hat, wie beispielsweise im letzten Jahr. Und darum waren auch die Feierlichkeiten zur deutschen Einheit eine Kombination aus allem: ein bisschen Silvesterfeuerwerk, ein bisschen Volksfest, ein bisschen Weltmeisterfeier, nebenbei noch ein wenig Staatsakt auf dem Niveau von „Bürgermeister krönt Weinkönigin“. Neudeutsche Harmlosigkeit am Rande der Lächerlichkeit, die wohl niemand um den Schlaf bringen wird.
21. März. Die Elefanten hätten womöglich mehr aus ihren Talenten machen können, wenn sie nicht einige Millionen Jahre Evolution bei dem komplizierten Versuch vergeudet hätten, ausgerechnet aus ihren Nasen Greifwerkzeuge zu machen. Darum stehen sie heute im Zoo auf der falschen Seite des Gitters.
16. April, Berlin. Auf der Oranienstraße sehe ich den ultimativen Punk. Er ist etwa zehn Jahre alt, sitzt auf einem dieser grauen Verteilerkästen am Straßenrand und unterhält sich gerade mit seinem Kumpel. Schwarze Nietenlederjacke, knallrote Irokesenfrisur, das Gesicht zieren eine riesige Sonnenbrille und die obligatorische Sicherheitsnadel. Als ein typischer Berliner Doppeldeckerbus vor ihm hält, spuckt er aus vollem Halse gegen dessen Seitenscheibe (ich sehe das entsetzt zurück zuckende Gesicht einer alten Frau trotz der störenden Spiegelungen), hebt den Mittelfinger und sagt „Scheiß Busse!“ Dann unterhält er sich seelenruhig weiter. Das wird mal ein zweiter Sid Vicious!
19. April. In einem expandierenden Universum kann man sich im Prinzip nur voneinander entfernen.
21. April. Mein Lieblingstier ist die Amöbe. Sie mag auf den ersten Blick etwas unscheinbar wirken, oft sogar regelrecht unsichtbar. Man kann sie weder streicheln, noch auf den Schoß nehmen oder anleinen, um mit ihr Gassi zu gehen. Auch wird ihr nachgesagt, sie übertrage die Ruhr. Aber seien wir doch mal ehrlich: Wer hat denn heute noch die Ruhr? Und Ruhr ist ja anundfürsich nichts schlechtes, man denke nur an das Ruhrgebiet. Niemand mag die Amöbe, aber sie wird noch bei uns sein, wenn andere Lieblingstiere wie Pandabär und Tiger längst ausgestorben sind.
1. Mai. Auf meiner Straße in Kreuzberg hat sich eine etwa zweihundert Mann starke Gruppe bewaffneter Ordnungskräfte zusammengerottet. Ich gehe verwundert zur Tankstelle am Ende der Straße, die mit Stellgittern eingezäunt ist. Auf dem Gelände sind vergitterte „Wannen“ der Polizei im Halbkreis aufgebaut, hier hat sich die Polizei wie in einer Wagenburg verschanzt.
15. Mai. Im Theater, ein kulissenloses Einpersonenstück vor kleinem Publikum: Der Hauptdarsteller lamentiert, schreit und gestikuliert fast zwei Stunden lang, schnauzt die Zuschauer an und stößt sie von den Stühlen, während er zwischen ihnen umher läuft. Eine Frau bewirft er mit den Innereien eines toten Fischs, den er bei sich trägt. Nach der Pause kommt er mit einer Flasche Schnaps zurück, gießt jedem Besucher ein Glas ein und trinkt die verbliebene halbe Flasche in einem Zug leer. Daraufhin erhält er spontan Applaus. G. sagte mir, der Schauspieler könne nur dieses eine Stück spielen und tingle damit seit etlichen Jahren durch die Lande.
16. Mai. Annonce im Stadtmagazin Zitty: „Dominanter Rollstuhlfahrer (31) sucht vollbusiges knackärschiges vulgäres Girl, die ihn im Badezimmer abspritzt und der er anschließend über die Beine fahren kann. Soweit es mir möglich ist, stelle ich mich auch mal auf deine Wünsche ein, ohne Gummi läuft jedoch nichts. Chiffre.“
19. Mai. Hunde haben keinen Zutritt, Schweine bitte zur Ehrenloge.
22. Mai. Die Sonne schien hell und der Schweinemensch tappte unbeholfen auf seinen kurzen Beinen durch den Park. Er trug einen weiten dunklen Overall, unter dem sich sein massiger Körper verbarg. Echte Menschen spielten auf den Wiesen, sorglos lachend und lärmend. Eine dumpfe Sehnsucht befiel ihn und er blieb an einem Teich stehen, um sein Gesicht zu betrachten. Der furchtbare Rüssel und die spitz aus dem Haargewirr hervor schauenden Ohren verrieten ihn als niedere Kreatur, als bloße Züchtung der Konzerne. Über die gnadenlose Selbstverwertung des Menschen war viel geschrieben worden, im 22. Jahrhundert war man zur Selbstverwurstung übergegangen. Eine unüberschaubare Masse von Rinder- und Schweinemenschen hatten den echten Menschen von allen einfachen Arbeiten befreit, gezüchtete Monstren ohne Hoffnung oder Rechte. Die höheren Aufgaben wurden von autonomen Computerterminals bewältigt, die echten Menschen waren auf dem besten Wege, sich selbst überflüssig zu machen.
„Was hast du hier im Park zu suchen?“ Eine barsche Stimme, der Schweinemensch drehte sich um. Er grunzte verlegen, murmelte eine Entschuldigung und trippelte davon. Auf der Straße erschrak er, als er die große Uhr sah. Natürlich, er mußte ja in die Fabrik. Wo war er nur mit seinen Gedanken? Es hatte ja doch keinen Sinn, auf der ganzen Welt gab es Fabriken. Überall würde ein Messer und eine Knochensäge auf ihn warten, mit denen er zwölf Stunden lang Rinderhälften zerlegen mußte. Arbeiten, bis die Sirene die Schicht beendet. Arbeiten, bis er eines Tages nicht mehr konnte. Dann würde er die Fabrik nicht mehr verlassen.
10. Juni. Yu No, der Herzog von Bla, suchte den weisen Yu Li auf, um ihn in einer heiklen Staatsangelegenheit um Rat zu Fragen.
„Was, werter Meister, soll die Grundlage meines Handelns sein?“ frug ihn der verzweifelte Fürst.
Da antwortete der Alte vom Berge: „Unser Leben ist endlos, das Wissen um das Leben ist aber noch unendlich viel endloser als alles, was Ihr Euch vorstellen könnt. Entscheidend ist, was hinten rauskommt.“
Mit diesen Worten entschwand er, um sich zu erleichtern. Als Yu Li zurückkehrte, sprang Yu No auf und lief hinter den Busch, den der Meister gewählt hatte.
„So riecht also Philosophenscheiße“, rief er und fuhr zurück in seinen Palast. Sein Reich wurde in der folgenden Schlacht vernichtet.
4. Juli. Abendspaziergang an den Kanalufern. Hier zwischen den Welten hat sich eine für Großstadtverhältnisse geradezu überraschende Naturidylle erhalten. An ihren Rändern eine vergessene, halb überwucherte Industrielandschaft. Verfallene Fabrikruinen aus rotem Backstein ragen wie verwunschene Märchenschlösser aus dem Grün. An der Schilling-Brücke eine mittelalterliche Szene: in Bretterwagen wohnen bunte Gestalten, Ziegen grasen friedlich, die Hunde springen herum, Lagerfeuer, über allem der funkelnde Fernsehturm als ironischer Kontrapunkt. Ich spaziere weiter. Am Ufer ist es wunderbar ruhig, Schwäne lassen sich über das Wasser treiben und ein Taxi brummt zufrieden über das Kopfsteinpflaster. Menschen liegen auf den Uferwiesen und genießen die Dämmerung. Ich setze mich auf ein Geländer und ruhe mich ein wenig aus. Die Stadt ist wirklich eine Landschaft. Nicht nur eine steinerne Landschaft, die es wandernd zu entdecken gilt, sondern eine natürliche Landschaft mit vielen reizvollen Winkeln. Auf dem Rückweg durch den Görlitzer Park ist die Silhouette meiner Straße in dottergelbes Licht getaucht, schwarz und ruhig liegen die Häuser vor mir. Die Lichter der Kirche am Lausitzer Platz leuchten rot in der Ferne. Im Vergleich zur großzügigen Uferlandschaft wirkt der Park spielerisch. Eine winzige Brücke, das schmale Tor und schon bin ich heimgekehrt.
17. September, Schweppenhausen. Bestimmt benehmen sich alle Leute ganz albern, wenn sie allein sind. Dann schneiden sie Grimassen, springen herum, lachen, tanzen, pfeifen und bohren ungeniert in der Nase – kurzum: sie benehmen sich ungezwungen und natürlich. Zivilisation ist daher einfach die Unfähigkeit, gemeinsam normal zu sein. Da muss man sich über die vielen unglücklichen, kranken und aggressiven Menschen nicht wundern.
9. Oktober. Geplanter Titel meiner Autobiographie: „Wunderbare Reisen zu Lande, zu Wasser und in der Luft, Raubzüge und lustige Abenteuer des Matthias Eberling, wie er dieselben bei der Flasche im Kreise seiner Freunde selbst zu erzählen pflegt.“
31. Oktober. Seltsam melancholische Tage, die ganze Woche habe ich unentschlossen im Bett verbracht. Die Tage sind grau und dunkel. Zu Zeiten, zu denen ich vor wenigen Wochen noch im Freien Kaffee und Bier zu trinken pflegte, hasten nun erloschene Gesichter durch die Finsternis. Alles ist kalt und traurig, unendliche, kaum vorstellbare Zeitwüsten trennen mich vom nächsten Sommer. Erinnerungen, vergessen geglaubte Bilder; ein unsichtbares Band zwischen all den Momenten der Traurigkeit bis zu diesem Augenblick. Ein flaues Gefühl im Magen, eine unbestimmte Ahnung, eine ziellose Sehnsucht. Ich könnte für immer hier liegen bleiben.
4. November. Künstler sind die Nervenzellen eines stählernen Automaten.
6. Dezember. Mainzer Allgemeine Zeitung: „Büdesheim – Als Hilfe für die Kriegsopfer in Kroatien findet am Sonntag, dem 8. Dezember, ab 15 Uhr in der Turnhalle in Büdesheim ein bunter Nachmittag statt.“
P.S.: Im April bin ich von Bad Kreuznach nach Berlin gezogen, im August von Berlin nach Schweppenhausen.
Sigue Sigue Sputnik – Love Missile F1-11. http://www.youtube.com/watch?v=pk30a0qsVIk
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Einfach köstlich. Sag mal, gibts Deine Texte auch in Buchform? So richtig zum altmodischen analog offline lesen? Nicht das das hier ein zweiter Pessoa lauert.
AntwortenLöschenDiese ganzen kleinen Schnipsel sind aus meinen Notizbüchern (1987-2012), das gibt es also nur im Netz, aber es gibt drei Berlin-Krimis von mir ("Ich träume deinen Tod", "Weißer Wedding" und "Berliner Asche") und zwei Bände mit Kurzgeschichten unter dem Pseudonym Rondo Delaforce ("Die singende Fleischwurst" und "Beamtenanwärter in Seenot").
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