Montag, 29. September 2014
Leben mit Bonetti
Als sich der Himmel am frühen Morgen langsam aufhellte, erwachten die Vögel als Erste und sie begannen zu zwitschern. Nichts Besonderes: Ich lebe noch, du lebst noch, ein neuer Tag beginnt, keine Gefahr. Das übliche Gezwitscher. Sonst war es wunderbar ruhig in der Villa Bonetti. Ich blieb noch eine Weile liegen, obwohl ich längst wach war. Dieser Genuss ist mir nicht jeden Morgen vergönnt. An manchen Tagen, gerade im Hochsommer, wird Mister Bonetti schon vor fünf Uhr wach und drückt die Eins auf seinem Smartphone. „Eins“ bedeutet, in sein Schlafzimmer zu kommen, da er etwas von mir wünscht. Meistens ist es ein Glas Wasser, gelegentlich auch eine Tasse Tee oder ein frisch gepresster Fruchtsaft. „Zwei“ bedeutet Arbeitszimmer, „Drei“ Wohnzimmer und bei „Vier“ nehme ich tatsächlich ab. Dann ist er irgendwo anders oder hat einen Wunsch, für dessen Erfüllung ich nicht in ein Zimmer kommen muss. Etwa, wenn ihm einfällt, dass er gerne mal wieder Popcorn am Wochenende essen würde oder wenn er Freunde einladen möchte. Die ersten vier Nummern seines Telefons sind für mich reserviert, ich kenne die unterschiedlichen Melodien längst auswendig. „Fünf“ steht für Sekretärin, „Sechs“ für Chauffeur, „Sieben“ für Verleger, „Acht“ für Oberbürgermeister, „Neun“ für Kultusminister und die „Null“ ist angeblich eine Direktleitung zur Bundeskanzlerin – aber über die „Null“ schweigt Mister Bonetti beharrlich.
Was nur die wenigsten wissen: Mister Bonetti zieht sich zum Schreiben gerne um. Natürlich sitzt er gelegentlich auch im Morgenmantel an seinem Schreibtisch. Und an heißen Tagen trägt er nur eine Unterhose. Dann hat er ein großes Badehandtuch auf seinem Ledersessel ausgebreitet, ein Handtuch hängt über der Sessellehne und seine stark schwitzende Denkerstirn wird von zwei Ventilatoren angeblasen, die links und rechts neben seinem Notebook stehen. Sehr gerne trägt er beim Schreiben seiner Abenteuergeschichten ein Batman-Kostüm. Er hat auch einen großen Spiegel in seinem Arbeitszimmer, vor dem er Heldenposen einstudiert. Ich gestehe, dass ich ihn bisweilen durch das Schlüsselloch beobachte. Manchmal kleidet er sich auch wie seine großen Vorbilder Oscar Wilde und Charles Baudelaire. Ich habe ihn aber auch schon in einem japanischen Kimono gesehen – oder in grauen Jogginghosen.
Die linke Seite seines riesigen schwarzen Schreibtischs enthält eine Minibar, die immer mit fränkischem Bier, rheinhessischem Wein, schottischem Whisky, Bourbon und Gin gefüllt ist. Dazu passt auch der gerahmte Sinnspruch über seinem Sofa: „Da man aber nicht immer nur schreiben kann, gab es große Lücken zu füllen. Ich füllte sie mit Scotch, Bier, Ale und Frauen. Mit den Frauen hatte ich meistens Pech, und die Folge war, dass ich mich stark aufs Trinken konzentrierte“ (Charles Bukowski). Sein Notebook in der Mitte des Schreibtischs ist trichterförmig von Papieren, Büchern, Zetteln, leeren Pralinenschachteln und allerlei anderem bunten Durcheinander eingefasst, zu dem der zweite Sinnspruch passt: „Chaos ist das halbe Leben - und die andere Hälfte suche ich gerade“ (Andy Bonetti). Dieser Raum ist sein Heiligtum. Für die eigenartige Unordnung auf seinem Schreibtisch hat Mister Bonetti ein fotografisches Gedächntis. Selbst offensichtlich wertloser Müll darf erst entsorgt werden, wenn er im Papierkorb liegt. Es könnte ja sein, dass der Meister ein Gedicht auf die Innenseite einer Schokoladenverpackung geschrieben hat. Wenn Bonetti mit dem Schreiben fertig ist, schickt er mir den Text per Mail ins Büro im Erdgeschoss, wo ich ihn zweimal ausdrucke, einmal für meine Ablage, einmal für Mister Bonetti.
Gegen sieben Uhr klingelte es an der Hofeinfahrt. Das war ungewöhnlich, denn normalerweise kam der Bote der Konditorei Schwalbenheim aus der Innenstadt erst um kurz nach Zehn, um für Bonettis zweites Frühstück Sesambrötchen und französische Zitronentarte sowie ein frischgebackenes Brot zu bringen. Ich ging zur Haustür und sah auf den kleinen Monitor, der das Bild der Kamera am Eingangstor zeigte. Vor dem schmiedeeisernen Gitter standen Tino und Toni Schwendlinger, die beiden Gehilfen Bonettis.
„Schnell, lassen Sie uns hinein, Johann!“ rief einer von ihnen. Es ist mir unmöglich, die eineiigen Zwillinge voneinander zu unterscheiden. „Und schließen Sie augenblicklich das Tor, wenn wir hindurchgefahren sind!“ sagte der andere.
Ich drückte einen Knopf und das Tor öffnete sich. Ein 1958er Chevrolet Impala Sport Coupé, den die Schwendlingers für eine längere Recherche aus dem Fuhrpark Bonettis entliehen hatten, rollte knirschend auf den Kies vor den säulenbewehrten Portikus der Villa. Hastig stiegen die beiden großen Männer aus und rannten durch die Tür an mir vorbei in die Vorhalle. Sie trugen ockerfarbene Multifunktionsjacken mit einem ganzen Universum kleiner und kleinster Taschen, die alle mit einem Reißverschluss versehen waren, khakifarbene Hosen und verstaubte, knöchelhohe Schnürstiefel. Ungewöhnlich waren vor allem die Tropenhelme auf ihren Köpfen.
„Wir müssen sofort Mister Bonetti sprechen“, riefen sie im Chor. Nun steht Mister Bonetti aber gewöhnlich erst um neun Uhr auf und verbittet sich jedwede Störung seines Schlafes. In seinen Augen ist es eine schwere Sünde, einen schlafenden Menschen zu wecken.
Also sagte ich: „Darf ich die Herren fragen, in welcher Angelegenheit Sie Mister Bonetti zu sprechen wünschen?“
„Es ist wirklich dringend“, flehte mich einer der beiden an. Ob es Tino oder Toni, oder um es mit Bonetti zu sagen: ob es Schwendlinger Eins oder Schwendlinger Zwo war, konnte ich beim besten Willen nicht sagen. „Es geht um Shangri-La“.
Nun wusste ich, dass Mister Bonetti seine beiden Gehilfen nach Tibet geschickt hatte, um für seinen neuen Roman etwas über das legendäre Shangri-La herauszufinden, ein abgelegenes Tal, in dem angeblich das Geheimnis des ewigen Lebens gehütet wurde. Der andere Schwendlinger trat unruhig von einem Bein auf das andere und schwenkte dabei eine Pergamentrolle über seinem Kopf. Also bat ich sie, mir leise vor die Schlafzimmertür von Mister Bonetti zu folgen und keinen Laut von sich zu geben. Währenddessen klingelte es an der Hofeinfahrt. Ich klopfte behutsam an die Tür. Aus dem Schlafzimmer war nichts zu hören. Ich klopfte etwas fester und sagte: „Mister Bonetti, verzeihen Sie die Störung, aber es scheint dringend zu sein.“ Es klingelte erneut, ich konnte es schwach aus dem Erdgeschoss hören.
Endlich rief Bonetti „Herein“ und ich öffnete die Tür. Sofort liefen die Schwendlingers an das riesige Himmelbett von Mister Bonetti, der den seidenen Vorhang etwas zur Seite zog.
„Wir haben das Geheimnis entdeckt, Mister Bonetti. Aber die Chinesen sind hinter uns her“, sagte einer der Schwendlingers und übergab Bonetti die Pergamentrolle.
Mister Bonetti sah mich an und nickte in Richtung Fenster. Ich ging zum Fenster und warf einen kurzen Blick zwischen den geschlossenen dunkelblauen Brokatvorhängen nach draußen. Ich sah einige Asiaten in schwarzen Anzügen und mit Sonnenbrillen, die gerade über die Grundstücksmauer kletterten. Da werde selbst ich unleidlich. Das ist nicht korrekt. Ich informierte Mister Bonetti, der sich augenblicklich erhob.
Er ging zu einem Schrank hinüber, öffnete ihn und nahm zwei Jagdgewehre heraus. „Schwendlinger Eins und Schwendlinger Zwo, Sie halten die Chinesen auf! Johann, Sie kommen mit mir!“
Nur mit einem Pyjama bekleidet und in Seidenpantoffeln lief er eilig in sein Arbeitszimmer. Ich folgte ihm, so schnell ich konnte. Bonetti ging ins Separee des Zimmers, in dem sich nur eine Toilette und ein Waschbecken befanden. Er drückte auf die Steckdose und eine schmale Tür öffnete sich. Diesen geheimen Mechanismus kannte ich gar nicht. Er verschwand dahinter und ich lief hinterher. Über eine Wendeltreppe aus Metallgittern gingen wir in einen Keller hinab, dessen Wände aus grob behauenem Fels bestanden. Hier war ein Laboratorium aufgebaut, von dem ich noch nie gehört hatte. Mister Bonetti hatte diese Räumlichkeiten in all den Jahren mit keinem Wort erwähnt.
Er zog sich einen dreiteiligen weißen Anzug an und ich band ihm den karmesinroten Schlips. Nachdem er auch seine dunkelbraunen Lederhalbschuhe an den Füßen hatte, stiegen wir in einen Bugatti Type 57 SC Atlantic. Von diesem Modell wurden nur vier Stück gebaut, wovon noch zwei erhalten sind. Es ist derzeit das teuerste Auto der Welt. Auch seine Existenz in dieser Höhle war mir unbekannt geblieben. Mister Bonetti startete den Wagen und nahm die Scheinwerfer in Betrieb. Vor uns lag ein Tunnel, durch den wir mit hoher Geschwindigkeit fuhren. Nach einigen Minuten drückte Mister Bonetti einen Knopf am Armaturenbrett und vor uns öffnete sich ein Tor. Wir fuhren ins helle Sonnenlicht hinaus und neuen Abenteuern entgegen.
Tom Jones – Kiss. http://www.youtube.com/watch?v=yuH1XDtN4rE
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