Montag, 16. Juni 2014

Die Wahrheit

Thomas Bernhard wurde von seinem Verleger förmlich um seine Manuskripte angebettelt. Zu Elias Canetti kam der Cheflektor persönlich nach Hause, um den handschriftlichen Text abzuholen. Dann wurde er im Verlag abgetippt und per Chauffeur zurück zum Autor expediert. Truman Capote gelang es sogar, seinem Verleger umfangreiche Vorschüsse abzuluchsen – für ein Manuskript, das es nie gegeben hat, wie man nach seinem Tod feststellte. Im wahren Leben ist alles anders. Die stählerne Beharrlichkeit des Banalen umfängt den Schriftsteller schon, wenn er nur das Haus verlässt.
Da steht er nun mit seiner Kunstledermappe an der Bushaltestelle. Es ist sieben Uhr morgens und seine Nase läuft. Als er den Bus besteigt, taucht er in eine Hölle aus lärmenden Schülern ein. Als er wenig später in der Kreisstadt aussteigt, hat er bereits starke Kopfschmerzen. Aber er muss den Verlag erreichen. Er ist pleite und braucht dringend einen Vorschuss. Also kauft er sich von seinem letzten Geld eine Fahrkarte und steigt in den Zug, der ihn in die große Stadt bringt. Als er die Bahnhofshalle der großen Stadt betritt, bekommt er es mit der Angst zu tun. So viele Menschen hat er schon lange nicht mehr auf einem Haufen gesehen. Schnell weiter! Als er auf den Vorplatz tritt, um sich auf den langen Fußmarsch zum Verlagsgebäude zu begeben, setzt unmittelbar ein schwerer Regen ein. Völlig durchnässt und nach vielen Irrwegen erreicht er schließlich den Verlag. Es dämmert schon.
Er klopft an die Tür. Nichts. Er klopft noch einmal. Wieder nichts. Er klopft lauter. Endlich hört er das Geräusch schlurfender Schritte. Die Tür wird geöffnet. Die Sekretärin des Verlegers steht vor ihm.
„Was wollen Sie?“ fragt sie und sieht ihn spöttisch an. Sie beginnt zu kichern.
„Ich bin hier wegen des Manuskripts, das ich Ihnen vor sechs Monaten geschickt habe.“
„Manu-, Manu-, Manuschibt?“ lallt sie verständnislos und kichert wieder.
„Erkennen Sie mich denn nicht, Frau Maiselova? Ich bin Andy Bonetti. Einer Ihrer Autoren.“
Sie muss sich im Türrahmen abstützen, um nachzudenken. „Brunetti … Buletti … Haben wir wasch ssu essen bestellt? Ha-haben Sie die Pizza etwa in Ihrer Mappe?“
„Liebe Frau Maiselova, ich muss unbedingt den Herrn Verleger sprechen. Es ist wichtig.“
„Den?“ Sie lacht laut und beginnt, gefährlich zu schwanken. Dann tritt sie zur Seite und bittet ihn mit einer übertriebenen Verbeugung hinein.
Im Vorzimmer stapeln sich die Manuskripte zu Bergen, auf dem Schreibtisch der Sekretärin stehen leere Weinflaschen und Gläser. Offensichtlich hat es eine Feier gegeben.
Frau Maiselova deutet auf eine Tür und schiebt ihn dann mit beiden Armen auf sie zu. „Gehen Sie ruhig rein“, ermuntert sie ihn. Er öffnet die Tür und sieht den Verleger, der den Kopf auf die Tischplatte gelegt hat und laut schnarcht. Er macht ein paar Schritte auf ihn zu und ruft: „Guten Tag, Herr Bloch!“
Keine Reaktion. „Herr Bloch?!“ Er stellt sich neben ihn und schüttelt ihn sanft. Nur ein kurzes Grunzen, dann ein zufriedenes Schnaufen. Er packt ihn bei den Schultern und setzt ihn aufrecht hin. „Herr Bloch! Es ist wichtig! Es geht um mein Manuskript. Haben Sie ‚Liquid Heaven‘ gelesen?“
Er stöhnt. Er krächzt. Dann schüttelt er den Kopf und öffnet die verquollenen Augen zu winzigen Schlitzen. „Wer? Was?“ sagt er mit schwerer Zunge, dann fällt sein Kopf zurück auf den Tisch. Mit seinen Armen reißt er ein paar Schnapsflaschen um. Es ist nichts zu machen. Er schnarcht wie ein Bär im Winterschlaf.
Bonetti setzt sich also in einen Besuchersessel und wartet. 'Ich werde einfach solange warten, bis er wieder aufwacht und mir zuhören kann. Ich brauche das Geld. Ich habe noch nicht einmal genügend Geld für die Heimfahrt. Es gibt keine andere Möglichkeit', denkt er. Draußen bricht die Nacht herein.
Als er aufwacht, ist es heller Morgen. Der Verleger ist wach und schaut ihn neugierig an.
Er reibt sich den Schlaf aus den Augen und beginnt: „Herr Bloch. Sie erinnern sich doch an mich, oder? Andy Bonetti. Ich habe Ihnen das Manuskript vor sechs Monaten geschickt. Mein neuer Roman.“
Der Verleger lacht vergnügt und klopft sich auf die fetten Schenkel. Dann steht er auf und torkelt zu einem Wandschrank. Er öffnet ihn und zieht wahllos zwei Manuskriptbündel heraus, die er wild über seinem Kopf schwenkt. Plötzlich wirft er sie hoch in die Luft und bricht in einen Lachkrampf aus. Tränen rollen über seine feisten Wangen, vor lauter Atemnot muss er sich setzen. Dann greift er zu einer Flasche Bourbon und schenkt sich ein Wasserglas voll, das er in einem Zug austrinkt. Nach einem kleinen Rülpser legt er den Kopf auf die Tischplatte und schläft ein.
Und so etwas erleben wir Autoren regelmäßig, wenn wir uns erzwungenermaßen der zärtlichen Umarmung der Kalliope entwinden müssen …
Johnny Guitar Watson – A Real Mother For Ya. http://www.youtube.com/watch?v=0z-hKprKdII

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