Montag, 2. Juni 2014
Die Geschichte der Fußballweltmeisterschaft, Teil 3
1950 fand die erste Weltmeisterschaft nach dem Zweiten Weltkrieg statt. Im vom Krieg unzerstörten Brasilien räumten Bagger die Armenviertel von Rio mit derselben Erbarmungslosigkeit wie 2014. Es entstand das Maracana-Stadion, in dem über zweihunderttausend Menschen das Finale gesehen haben. Von allen Stadien der Welt, die ich zu Fußballspielen besucht habe, hat mich keines so beeindruckt, wie dieser riesige Kessel voller Samba-Trommler und Fan-Chören. Wie das Lokalderby Fluminense FC gegen Flamengo damals ausging weiß ich nicht mehr – ich habe mir die ganze Zeit nur die wahnsinnige Party auf den Tribünen angeschaut. Sowas habe ich noch nicht mal auf dem Kaiserslauterer Betzenberg in der guten alten Zeit erlebt – vom verschnarchten Berliner Olympiastadion ganz zu schweigen.
Nach zahlreichen Absagen nahmen nur 13 Nationen am Turnier teil. Türken, Schotten und Franzosen machten von ihrem Startrecht keinen Gebrauch, das gerade unabhängig gewordene Indien verzichtete, weil es ihren Spielern nicht erlaubt wurde, barfuß zu spielen. Die Mannschaften reisten erstmals mit dem Flugzeug an – bis auf die Italiener, die den Schiffsweg wählten, da fast ihre gesamte Nationalmannschaft bei einem Flugzeugabsturz 1949 ums Leben gekommen war, als die Maschine mit der Meistermannschaft des AC Turin (die zuvor in 93 Heimspielen in Folge unbesiegt geblieben war) an einem Berg zerschellte. Zum ersten Mal nahmen die Engländer an einer Weltmeisterschaft teil. Die Stars von der Insel verloren sensationell gegen die USA, wobei ein Student aus Haiti das entscheidende Tor schoss. Nach der Vorrunde mussten sie schon die Heimreise antreten. Das Finale verlor Gastgeber Brasilien überraschend gegen Uruguay. Ein brasilianischer Fan nahm sich noch im Stadion das Leben, mindestens zehn weitere folgten ihm landesweit. Der Trainer der Heimmannschaft verließ als Kindermädchen verkleidet das Stadion, Tausende von Drohbriefen gingen nach der verlorenen Partie beim Verband ein.
1954 fand die Fußballweltmeisterschaft in der neutralen Schweiz statt. Die junge Bundesrepublik durfte zum ersten Mal an der Qualifikation teilnehmen und spielte gegen Norwegen und das damals noch unabhängige Saarland. Die DFB-Auswahl erreichte das Turnier und sensationell sogar das Endspiel, das zum Kampf der Systeme wurde: Das kapitalistische West-Deutschland gegen das kommunistische Ungarn. Das Spiel wurde live im Fernsehen übertragen, die WM war das erste sportliche Weltereignis des neuen Mediums mit insgesamt 90 Millionen Zuschauern vor etwa vier Millionen Empfangsgeräten. Vor der WM waren in der BRD 27.592 Fernsehteilnehmer gemeldet (1.6.1954), nach dem Turnier war die Zahl auf 40.980 explodiert (31.7.1954). Mein Vater war einer der glücklichen Zuschauer, für zehn Pfennig Eintritt war er Gast im Wohnzimmer des einzigen TV-Besitzers in seinem Heimatdorf. Der Bildschirm war 25 x 19 cm groß und das Spiel nur in Schwarz-Weiß zu sehen. Im kollektiven Gedächtnis ist allerdings die Radioreportage eines hörbar vom Fußballfieber ergriffenen Herbert Zimmermann geblieben: „Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen – Rahn schießt – Tooooor! Tooooor! Tooooor! Tooooor!“
Bei der letzten WM-Teilnahme 1938 hatte die selbsternannte Herrenrasse mit den besten Spielern der deutschen und der österreichischen Nationalmannschaft kläglich versagt und war sieglos im Achtelfinale ausgeschieden. 1954 standen Underdogs aus der Westhälfte eines geteilten und international verachteten Landes auf dem Platz. Der sensationelle Turniersieg hatte vier Ursachen: Strategie, Technik, Drogen und Hochmut. Erstens gelang es dem alten Reichs- und neuen Bundestrainer Sepp Herberger, die Ungarn zu täuschen, als er bei der Vorrundenbegegnung der beiden Mannschaften viele Stammspieler auf der Bank ließ und 3:8 verlor. Zweitens boten die von Adidas entwickelten Fußballschuhe mit Schraubstollen auf dem regennassen Rasen im Berner Wankdorfstadion den besseren Halt und man konnte sie variabel den Bedingungen anpassen. In der Halbzeitpause wechselte die deutsche Mannschaft die Stollen. Außerdem sogen sie sich auch nicht mit Wasser voll wie das Schuhwerk der Ungarn, deren Treter bei Spielende jeweils 1,5 kg wogen. Adidas-Chef Adolf Dassler war Zeugwart der deutschen Mannschaft und Erfinder des Schuhs mit Schraubstollen. Drittens wurde den deutschen Spielern „Pervitin“ verabreicht, ein Amphetamin, das schon im Zweiten Weltkrieg von der deutschen Wehrmacht eingesetzt wurde (u.a. in der Ardennenoffensive bei Kriegsende). Ferenc Puskás, Kapitän der ungarischen Mannschaft, sagte, die Deutschen hätten mit Schaum vor dem Mund gespielt, aus ihren Augen hätten spitze Dolche herausgeragt. In der Halbzeitpause schrien sich die deutschen Spieler in der Kabine an und mussten vom Trainer beruhigt werden. Da die Spritzen nicht ausreichend sterilisiert waren, erkrankte ein Teil der deutschen Mannschaft später an Gelbsucht. Viertens war Ungarn der haushohe Favorit und feierte schon am Abend vor dem Endspiel den Turniersieg. Sie führten nach acht Minuten bereits 2:0 und sahen wie der sichere Sieger aus. Es wurde am Ende für Ungarn die einzige Niederlage in fünfzig Länderspielen zwischen 1950 und 1956. Die Buchmacher sahen den Olympia-Sieger von 1952, der ein Jahr zuvor die Engländer im Wembley-Stadion 6:3 geschlagen hatte (erste Heimniederlage des Fußballmutterlands gegen eine Mannschaft vom Festland), zu Beginn des Turniers mit einer Quote von 3,5:2 ganz vorne (Wettquote für die Deutschen: 9 zu 1). In Ungarn war die Sonderbriefmarke für den WM-Sieg bereits gedruckt und die Sockel für 17 überlebensgroße Denkmäler für die Helden von Bern standen hinter dem Budapester Nepstadion bereit – sie stehen noch heute als Mahnmal für den Hochmut von damals.
Kapitän Fritz Walter wurde zum Star, seine Einkünfte als Spieler von 320 DM monatlich (Obergrenze für DFB-„Vertragsspieler“, Voraussetzung war der Nachweis einer Berufstätigkeit) erhöhte er durch Buchveröffentlichungen, Werbeeinnahmen (die Sektkellerei Schloss Wachenheim vertrieb die Marken „Fritz Walter privat“, „Fritz Walter Krönung“ und „Fritz Walter Ehrentrunk“) und als Repräsentant des Adidas-Konzerns. Zum ersten Mal wurden vom DFB Prämien für Nationalspieler ausgezahlt: 1000 DM Pauschale, 200 DM pro Spielteilnahme, 2500 DM Siegprämie – und einen Fernseher. Der erste Weltmeistertitel legte, gemeinsam mit dem Wirtschaftswunder, den Grundstein zu einem neuen Selbstbewusstsein der Deutschen. Im Stadion sangen die Fans die abgeschaffte erste Strophe des Deutschlandlieds („Deutschland über alles …“), bei der Siegesfeier beschwor DFB-Präsident Dr. Peco Bauwens den altgermanischen Donnergott Wotan sowie das „Führerprinzip“ in der deutschen Mannschaft und vor 90.000 Zuschauern, darunter zahlreichen DDR-Bürgern, empfing Bundespräsident Heuss die Nationalmannschaft in Hitlers Olympiastadion in Berlin. Eine Million Menschen feierten die Weltmeister beim Empfang in München.
P.S.: 1955 verbot der DFB Frauenfußball mit der Begründung: „Im Kampf um den Ball verschwindet die weibliche Anmut, Körper und Seele erleiden unweigerlich Schaden, und das Zurschaustellen des Körpers verletzt Schicklichkeit und Anstand.“
Nina Hagen – Zarah. http://www.youtube.com/watch?v=yFnLVfkfXA4
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen